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19.10.2022

"Wir haben eine Option"

Energie wird teurer, einen Königsweg für den Umbau des Energiesystems gibt es nicht und Unabhängigkeit von globalen Lieferketten ist unmöglich: Christian Bruch, Vorsitzender des Vorstands von Siemens Energy, spricht unangenehme Wahrheiten aus. Dennoch zeigt er sich im Gespräch mit ampere optimistisch, dass eine dekarbonisierte Welt möglich ist.

Chefsache

„Wir haben eine Option“

Energie wird teurer, einen Königsweg für den Umbau des Energiesystems gibt es nicht und Unabhängigkeit von globalen Lieferketten ist unmöglich: Christian Bruch, Vorsitzender des Vorstands von Siemens Energy, spricht unangenehme Wahrheiten aus. Dennoch zeigt er sich im Gespräch mit ampere optimistisch, dass eine dekarbonisierte Welt möglich ist.

Ende Februar prägte ein deutscher Politiker den Begriff „Freiheitsenergien“ für die Erneuerbaren. Teilen Sie diese Sicht?
Der Begriff ist allein genommen etwas irreführend, man muss das schon genauer erläutern. Wenn Freiheit bedeutet, dass man autark ist, dann teile ich das nicht. Es stimmt nicht, dass wir mit Solar- und Windenergie autark werden können. Natürlich lässt sich die Stromproduktion durch den Umstieg auf erneuerbare Energien zu einem gewissen Maß lokalisieren. Wir gehen aber auch neue Abhängigkeiten ein, was bestimmte Metalle und Mineralien angeht. Daher gilt: Keine Energiewende ohne Globalisierung.

Um die Freiheit von fossilen Energieträgern langfristig zu erreichen, galt Erdgasverstromung als Brückentechnologie. Trägt diese Brücke noch?
Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass wir die Brücke Erdgas in den kommenden Jahrzehnten nutzen müssen. Daran hat auch der Krieg in der Ukraine nichts geändert. Im Vergleich zur Kohle ist Gas die bessere Alternative, die Emissionen können beträchtlich gesenkt werden. In vielen Regionen der Welt sehen wir den Strombedarf steigen. Hinzu kommt, dass Gaskraftwerke in einem von erneuerbaren Energien dominierten Stromsektor für Stabilität sorgen können.

Wie wichtig ist die Silbe „Erd-“ vor „Gas“ dabei? Können wir Erdgas kurzfristig durch Wasserstoff ersetzen?
Wasserstoff ist für mich in erster Linie ein Speichermedium, um erneuerbare Energie von einem Ort zum anderen zu transportieren. Damit wird es möglich, umweltfreundlich gewonnenen Strom aus Regionen wie Afrika oder Lateinamerika zu exportieren. Zudem kann er dazu dienen, Sektoren zu dekarbonisieren, die schwer direkt elektrifiziert werden können. Zudem können Elektrolyseure als netzdienliche Stromlasten hilfreich sein. Aber das ist ein komplett anderer Lösungsraum. Erdgas ist eine kurzfristig verfügbare Lösung. Die Umstellung von Kohle auf Erdgas reduziert die CO2-Emission pro Kilowattstunde um 40 Prozent – und das sofort!

Wenn wir Strom aus entlegenen Regionen importieren, transportieren wir dann wirklich Wasserstoff oder andere chemische Energiespeicher?
Das kann auch Ammoniak, Methanol oder eine andere chemische Verbindung sein, in die wir das Wasserstoffmolekül einbinden. Es ist auf jeden Fall sinnvoll, sich Gedanken darüber zu machen, wie wir bestehende Infrastrukturen weiter nutzen können. Denn das bedeutet einen volkswirtschaftlichen Investitionsvorteil. Wahrscheinlich wird es eine Vielfalt von Lösungen geben.

Im politischen Diskurs geht es allerdings meist nicht um Vielfalt, sondern darum, die eine richtige Lösung zu finden.
Die letzten zwei Jahre zeigen doch klar: Den Königsweg gibt es nicht, sondern nur eine Vielfalt von Lösungen. Als Unternehmen verbreitern wir unser Technologie-Portfolio laufend und investieren dazu jährlich eine Milliarde Euro in Forschung und Entwicklung. Eine zukünftige Energiewelt wird mehr Technologien haben und nicht weniger. Das ist schon aufgrund der Vielfalt in den Weltregionen notwendig.

Wie können künftig Abhängigkeiten möglichst gering gehalten werden angesichts einer zunehmend fragmentierten Weltwirtschaft?
Es geht nicht darum, weniger Abhängigkeit zu erreichen, sondern die Abhängigkeiten besser zu managen. In der Größenordnung, in der wir Rohstoffe benötigen, können wir uns nicht von globalen Lieferketten unabhängig machen. Aber wir müssen uns dessen bewusst sein und dann bewusste Entscheidungen treffen, um diese Herausforderung zu meistern.

Womit sich die Frage stellt, wie stark der Staat in den Energiesektor eingreifen sollte …
Die Energiewende wird nur mit privatem Kapital gelingen. Der Investitionsbedarf ist so hoch, dass kein Staat versuchen sollte, den Umbau des Energiesystems allein zu finanzieren. Doch der Staat kann Regeln setzen, etwa für die Versorgungsqualität, sodass es über das Preissignal hinaus weitere Investitionsanreize gibt. Es hat sich doch gezeigt, dass das energiewirtschaftliche Trilemma aus Bezahlbarkeit, Umweltverträglichkeit und Versorgungssicherheit nicht einseitig aufzulösen ist. Durch geeignete Regeln können entsprechende Anreize für private Investitionen gesetzt werden. 

Viel Kapital, viele Rohstoffe – das klingt danach, als würde Energie deutlich teurer werden.
Dass etwas Geld kostet, bedeutet für mich zunächst nur, dass es etwas wert ist. Wenn Nachhaltigkeit und Energiesicherheit mir etwas wert sind, dann bezahle ich dafür auch Geld. Der Umbau des weltweiten Energiesystems wird sehr viel Geld kosten. Um diesen Umbau zu bezahlen, wird Energie mehr kosten müssen. Davon zu unterscheiden ist die Frage, wie man trotzdem eine Gesellschaft fair gestaltet, sodass auch einkommensschwache Haushalte ausreichend Energie zur Verfügung haben.

Führen denn die bereits gestiegenen Preise für fossile Energieträger zu einem schnelleren Umbau?
Es war schon vor dem Ukraine-Krieg viel Schwung auf den Themen Solar, Wind, Speicher und Wasserstoff. Nun müsste die Geschwindigkeit eigentlich weiter zunehmen. Doch die Frage lautet: Kann das System das leisten? Zumindest steigt der Druck, alle begrenzenden Elemente – vor allem die Genehmigungsverfahren – wirklich anzupacken und zu beschleunigen. 

In der Gesellschaft führen die bereits spürbaren Folgen des Klimawandels meiner Beobachtung nach teilweise zu einer fatalistischen Haltung. Sind Sie denn weiter optimistisch, dass wir ausreichend schnell handeln können?
Als Ingenieur nehme ich meinen Optimismus daher, dass ich weiß: Die Technologie limitiert uns nicht. Es ist eher die Bereitschaft der Gesellschaft, Veränderungen zu akzeptieren, die uns begrenzen. Das ist doch eigentlich eine gute Botschaft, denn sie bedeutet: Wir haben eine Option. Und da sind wir wieder an dem Punkt, an dem wir uns fragen müssen: Ist es uns das wert? Wollen wir, dass unsere Kinder in einer einigermaßen intakten Welt leben? Noch einmal: Das ist möglich. Aber dazu muss sich etwas ändern, und es wird jeden Einzelnen betreffen.

Kann denn Deutschland – anders als bei der Solartechnik – von dem Umbau auch wirtschaftlich profitieren?
Das hoffe ich. Wir investieren in Berlin zum Beispiel in die Fertigung von Elektrolyse-Anlagen. Beim Thema Wasserstoff ist Deutschland bisher gut vertreten. Deutschland ist ein guter Standort, um neue Technologien zu industrialisieren, unter anderem aufgrund einer starken Zulieferindustrie.

Das hat allerdings in der Vergangenheit nicht immer funktioniert, wie wir am Niedergang der Solarindustrie beobachten mussten.
Mittlerweile schauen wir auch bei neuen Technologien vermehrt auf Industrialisierung und Kommerzialisierung. In der Vergangenheit waren wir – und damit meine ich die deutsche Wirtschaft insgesamt – vielleicht zu zögerlich, wenn es darum ging, Fertigung zu skalieren und wirklich große Fabriken zu bauen. Wir sind in Deutschland zu oft von Technologie und Ingenieurskunst fasziniert. Stattdessen sollten wir uns tatsächlich in jedem Einzelfall fragen, was Kundenwert schafft. Sind zwei Prozent mehr Wirkungsgrad für den Kunden wichtig oder ist das eigentlich irrelevant? Wenn wir die klare wirtschaftliche Ausrichtung, wie sie in anderen Weltregionen dominiert, mit der eigenen Ingenieurskunst kombinieren, wäre das ein großer Wettbewerbsfaktor.

Ein Wettbewerbsvorteil für die Industrie stellt die relativ sichere Stromversorgung dar. Ist die nun in Gefahr?
Keine Region der Welt hat so gute Netze wie Europa. Wenn wir das Energiesystem umbauen, sollten wir alles tun, diese Netze weiter auszubauen, zu verknüpfen und intelligenter zu machen. Das gilt übrigens nicht nur für den Transport von Elektronen, sondern auch für Moleküle, die als chemische Energiespeicher dienen. Die Netze sind das Rückgrat des gesamten Energiesystems und damit entscheidend dafür, wie ein Wirtschaftssystem aussehen soll. Wenn das Modell des Industriestandorts Europa nicht darauf basieren kann, die günstigsten Energiekosten aufzuweisen, dann doch auf einer extrem sicheren Versorgung mit grünem Strom, was dann auch zu entsprechend zertifizierbaren Produkten führt. Das ist für mich der Grundpfeiler des künftigen europäischen Wirtschaftssystems.

Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Bruch.

 

Dr.-Ing. Christian Bruch, Jahrgang 1970, beschäftigte sich schon während seines Maschinenbaustudiums mit Wasserstoff. Nach seiner Promotion an der ETH Zürich begann sein Karriereweg zunächst als Projektingenieur bei RWE. Ab 2004 war er in zahlreichen Führungs­positionen für Linde tätig, zuletzt ab 2019 als Sprecher des Vorstands. Mit der Abspaltung des Energiebereichs von der Siemens AG im Jahr 2020 übernahm Bruch den Vorsitz des Vorstands bei Siemens Energy.

 

Text: Johannes Winterhagen | Fotografie: Goetz Schleser

 

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 4.2022 am 8. November 2022 erschienen.

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