Blick ins Labor

Herausforderung angenommen

Die Prozessindustrie muss flexibler und effizienter werden – und die digitale Integration vorantreiben. Mit dem Module Type Package (MTP) und der NAMUR Open Architecture (NOA) unterstützen die Automatisierungsunternehmen im ZVEI die Branche auf dem Weg zur Industrie 4.0

Zitronensäure kann Kalk lösen, Lebensmittel konservieren oder Geschmack verstärken. Der Inhaltsstoff wird schon lange nicht mehr aus Zitronen gewonnen. Stattdessen produziert ihn der Schimmelpilz „Aspergillus niger“ in einem biochemischen Verfahren aus Zucker. Dafür braucht es einen komplex aufgebauten Reaktor. Er besteht aus verschiedenen Modulen, die das Material unter anderem dosieren, steuern, belüften, aufwärmen und abkühlen. Die verschiedenen Bauteile liefern ganz unterschiedliche Unternehmen – und die Steuerung und Automatisierung kommt aus dem Kreis der ZVEI-Mitgliedsunternehmen. 

Diese Konstellation sorgt für viel Planungs- und Umsetzungsaufwand. Um die Prozessautomatisierung agiler, effizienter, kostengünstiger und digitaler zu gestalten – entscheidende Faktoren für Branchen wie Chemie, Life Science, Pharma oder Biokraftstoffe    –, arbeiten seit 2014 rund 20 Unternehmen und wissenschaftliche Einrichtungen gemeinsam mit dem Internationalen Verband der Anwender von Automatisierungstechnik und Digitalisierung der Prozessindustrie (Namur) und dem ZVEI an zwei Konzepten: Das Module

Type Package (MTP) liefert Standards, mit deren Hilfe sich die Prozessmodule herstellerübergreifend steuern lassen. Die Namur Open Architecture (NOA) hilft bei der Sammlung und Auswertung von Daten. „Mit den beiden Technologien können wir enorme Effizienzgewinne erzielen“, sagt Axel Haller, Vorsitzender des ZVEI-Arbeitskreises „Modulare Automation“. Der Elektrotechnik-Ingenieur, der im Hauptberuf Global Segment Manager bei der ABB AG ist, rechnet damit, dass der Engineering-Aufwand für Automatisierung bei einer Prozesskette um 70 Prozent, deren Flexibilität um 80 Prozent erhöht werden kann. „Außerdem können wir die Zeit bis zum Markteintritt halbieren.“ 

MTP und NOA, an denen seit 2017 auch die deutsche Plattform für Verfahrenstechnik, Chemieingenieurwesen und Technische Chemie ProcessNet sowie der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) mitarbeiten, begegnen dabei den größten Herausforderungen für die Prozessindustrie. „Die Lebenszyklen vieler Produkte sind heute stark verkürzt. Manche haben nur eine Marktrelevanz von wenigen Jahren, bevor sie weiterentwickelt werden“, sagt Haller. Der Schluss daraus: Um konkurrenzfähig zu bleiben, müssen Produktionsanlagen schnell einsatzbereit und anpassungsfähig sein. Gleichzeitig wollen die Nutzer die komplexe und zeitaufwendige Anlagenplanung und -integration vereinfachen und den Engineering-Aufwand reduzieren. Nicht zuletzt bleiben heute noch viel zu viele wertvolle Daten in Produktionsanlagen ungenutzt, da sie in Automatisierungssystemen oder veralteten Schnittstellen „gefangen“ sind. Dabei erfordert eine umfassende Digitalisierung von Prozessen einen einfachen Zugriff auf Daten. 

Für die höhere Flexibilität setzt Axel Haller auf MTP. Dabei handelt es sich nicht um eine neue Technologie, sondern um eine Standardisierung, die auf bewährten Technologien wie OPC UA und AutomationML basiert. „Ein Modul wie ein Extruder oder ein Bioreaktor besteht aus einer Hardware und einer intelligenten Software, die autark funktioniert und über definierte Services angesprochen wird“, erklärt Haller. „Das kann so einfach wie beim Smart Home funktionieren, wo die Geräte einfach per App gesteuert werden.“ Die Modul- und Leitebene – auch „Orchestrierungs- oder Prozessführungsebene“ genannt – werden dabei logisch voneinander getrennt, jedes Prozessmodul wird durch einen eigenen Controller oder eine speicherprogrammierbare Steuerung (SPS) intelligent gemacht. Mithilfe von MTP können die Produktionsmodule flexibel zusammengesetzt und effizient in Anlagen integriert werden. „Neue Module können schnell hinzugefügt, ersetzt oder angepasst werden, ohne dass komplexe Programmierungen erforderlich sind“, nennt Haller einen weiteren Vorteil. Darüber hinaus bleibt das Know-how der einzelnen Hersteller geschützt: „Die Anbieter betten ihre Expertise in die Module ein, die die Nutzer auf der Oberfläche steuern können.“

Das zweite Konzept ist für Axel Haller eine wichtige Ergänzung zu MTP. Mit der Namur Open Architecture (NOA) können bisher schwer zugängliche Daten aus Produktionsanlagen zur Verfügung gestellt werden. NOA nutzt dazu einen zweiten Datenpfad, um Informationen direkt aus Sensoren und Aktoren in eine Cloud oder andere Systeme zu übertragen. Die Automatisierungssysteme selbst werden dadurch nicht beeinflusst. „So können wir auf Daten aus dem Feld zugreifen, ohne komplexe Schnittstellen oder zusätzliche Systeme zu benötigen“, sagt Haller. Er betont auch, dass eine Read-Only-Sicherheit gegeben ist, die Daten also nur ausgelesen werden. „Ein möglicher Write-Back – also die Möglichkeit, Änderungen vorzunehmen – erfolgt über einen separaten, sicheren Pfad.“ Für ihn ist NOA ein wichtiger Schritt, um mit den Daten zum Beispiel Asset Management zu betreiben und Simulationen zu erstellen – mit dem Ziel, die Produktionsanlagen weiter zu optimieren. „Beide Technologien ermöglichen es uns, Komponenten unabhängig voneinander zu steuern und gleichzeitig als Teil eines großen Ganzen zu orchestrieren. Damit machen wir einen entscheidenden Fortschritt für Industrie 4.0.“ Davon dürfte bald auch die komplexe Produktion von Zitronensäure aus Schimmelpilzen profitieren.

 

Text Marc-Stefan Andres | Illustration iStockphoto.com / Sylverarts

 

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 2025 am 24. März 2025 erschienen.



Erschienen in der Ausgabe 2025

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