Elektrifizierung

14.11.2022

„Strategisch wichtige Dinge selbst tun“

Technologische Souveränität soll Europas singuläre Abhängigkeiten von einzelnen Handelspartnern verringern. Doch was bedeutet das konkret? Darüber diskutierten Stefan Schnorr, Staatssekretär im Bundesministerium für Digitales und Verkehr, und ZVEI-Präsident Dr. Gunther Kegel.

Zwiegespräch

„Strategisch wichtige Dinge selbst tun“

Technologische Souveränität soll Europas singuläre Abhängigkeiten von einzelnen Handelspartnern verringern. Doch was bedeutet das konkret? Darüber diskutierten Stefan Schnorr, Staatssekretär im Bundesministerium für Digitales und Verkehr, und ZVEI-Präsident Dr. Gunther Kegel.

 

Wir erleben gerade schmerzhaft, wie abhängig wir bei der Energieversorgung sind. Müssen wir die Globalisierung zurückdrehen?
Schnorr: Wir leben in einer globalisierten Wirtschaft, der wir viel von unserem Wohlstand verdanken. Leider sind wir aktuell mit einer Reihe von Problemen konfrontiert. Es begann mit der China-Politik des damaligen US-Präsidenten Trump, danach sind die Lieferketten durch die Corona-Pandemie teilweise zusammengebrochen. Höhepunkt dieser Entwicklung war der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der die internationale Abschottung verschärft hat. Darum müssen wir in Zukunft – genauso wie bei der Energieversorgung – auch im technologischen Bereich mehr Souveränität erreichen.

Kegel: Als Vorstandsvorsitzender eines weltweit tätigen Unternehmens kann ich nur bestätigen: Die Globalisierung ist ein Erfolgsmodell. Allerdings sind auch gefährliche Abhängigkeiten entstanden, zum Beispiel bei den Halbleitern. China hat in der Chipproduktion einen Marktanteil von etwa 21 Prozent, hinzu kommt Taiwan mit weiteren 19 Prozent. Durch einen Konflikt zwischen den beiden Ländern könnten wir rund 40 Prozent unserer Versorgung mit Chips verlieren. Das ist eine gefährliche Abhängigkeit, und darum müssen wir in eigene Halbleiter-Fertigungskapazitäten investieren. Es ist daher sehr sinnvoll, mithilfe des „European Chips Act“ große Fertigungsstätten in Europa anzusiedeln. Und ich bin froh, dass Intel in Magdeburg eine Mega-Fab baut und sich auch andere Halbleiterproduzenten in Europa engagieren wollen. Das macht uns wieder ein Stück souveräner.
 
Was sollte Europa unbedingt selbst machen?
Schnorr: Europa muss beispielsweise in der Lage sein, eigene digitale Netze wie Breitband- oder Mobilfunknetze zu entwickeln, und sollte hier nicht abhängig von Herstellern aus dem Ausland sein. Wir brauchen das Know-how, aber auch Fertigungskapazitäten und die Produktionsketten. Das Gleiche gilt für Technologien wie Künstliche Intelligenz, Robotik oder Blockchain. Entscheidend ist aber auch der Zugriff auf große Datenmengen, die die Grundlage vieler neuer Geschäftsmodelle sind. Die meisten Cloud-Anbieter sitzen heute nicht in Europa, sodass wir möglicherweise eines Tages nicht mehr an die dort gespeicherten Daten herankommen. Kurz gesagt: Wir wollen uns nicht abschotten und autark werden – aber wir müssen in der Lage sein, strategisch wichtige Dinge selbst zu tun.

Kegel: Ich kann die Relevanz von Software nur unterstreichen! Ein Internetgigant wie Amazon investiert jedes Jahr mehr als 50 Milliarden Dollar in Forschung und Entwicklung – mehr als die gesamte elektrotechnische Industrie in Deutschland! US-Unternehmen haben eine enorme Macht, etwa im Bereich der Künstlichen Intelligenz. Nun sind wir mit den USA ja eigentlich in einer Wertegemeinschaft verbunden, aber seit Obamas Hinwendung nach Asien und Trumps „America First“-Politik müssen wir auch hier vorsichtiger sein.

Was kann die Politik tun, damit wir technologisch souveräner werden?
Schnorr: Nehmen wir als Beispiel die Chips. Hier haben wir Lieferkettenprobleme, denen wir nur auf europäischer Ebene begegnen können. Darum wurden die IPCEI-Projekte (Important Project of Common European Interest) ins Leben gerufen. Sie ermöglichen uns, das strenge Beihilferegime teilweise zu umgehen und viele Milliarden Euro in die Chipfertigung zu investieren.

Also sind mehr Subventionen die Lösung?
Schnorr: Sie sind nur ein Teil der Lösung. Neben der Förderung spielt die Regulierung eine zentrale Rolle. Natürlich wollen wir keine grenzenlose Datenerfassung und kein Scoring-System wie in China – aber wir müssen auch unseren Unternehmen die Chance geben, auf Basis großer Datenmengen neue KI-Algorithmen zu entwickeln. Zurzeit gibt es bei uns leider eine ausgeprägte Verbotskultur, die wir überwinden müssen. Sonst verpassen wir den Zug, der woanders schon längst angefahren ist. Kluge Regulierung kann aber auch helfen, faire Spielregeln durchzusetzen. Durch den „Digital Services Act“ und den „Digital Markets Act“ müssen Konzerne wie Facebook oder Google sich erstmals an europäische Standards halten, die in den USA nicht gelten. Das schafft faire Wettbewerbsbedingungen.

Kegel: Ich sehe das genauso: Durch Förderung und Regulierung werden wir auch in Zukunft zwar nicht völlig unabhängig von anderen Lieferanten, aber wir haben zumindest ein Druckmittel in der Hand. Aus ordoliberaler Sicht sind solche staatlichen Unterstützungen natürlich nicht schön, aber angesichts der immensen Subventionen in anderen Ländern sehe ich dazu auch keine Alternative.

Können wir durch Innovationen unabhängiger werden?
Schnorr: Wir haben in Deutschland eine exzellente Forschungslandschaft, schaffen den Transfer in Produkte und Dienstleistungen aber nicht schnell genug. Das geht in Ländern wie den USA deutlich schneller. Wichtig ist aber auch, dass die vielen innovativen mittelständischen Unternehmen in Deutschland ihre Produkte interoperabel machen, Standards setzen und so ihre Schlagkraft erhöhen. Darum haben wir gemeinsam mit dem ZVEI die Hersteller in der „Smart Living“-Initiative zusammengebracht. Das ist ein Modell auch für andere Bereiche: durch eine enge Zusammenarbeit im Mittelstand die Kräfte bündeln, statt bei uns Monopole aufzubauen. Auch so können wir uns gegen internationale Konzerne besser behaupten und dadurch ein Stück unabhängiger werden.

Würde dabei ein europäischer Datenraum für Business-to-Business-Anwendungen helfen?
Kegel: In den Produktionsanlagen fallen unzählige Messwerte an, aus denen man mithilfe von Zusatzinformationen wertvolle Daten machen kann. Der ZVEI setzt sich schon seit Jahren dafür ein, den unternehmens- und sektorübergreifenden Austausch solcher Daten zu fördern und dadurch die Entwicklung datengetriebener Geschäftsmodelle zu erleichtern. Das würde viel Kreativität freisetzen – und möglicherweise könnte daraus in Europa das industrielle Metaverse der Zukunft entstehen.

Schnorr: Hier ist zunächst die Wirtschaft in der Verantwortung, solche Systeme zu schaffen. Leider sind einschlägige Initiativen bisher daran gescheitert, dass Unternehmen ihre Daten nicht teilen wollten. Als Politik können wir hier nur Treiber und Unterstützer sein – unter anderem bei der Regulierung. Mit dem „Data Act“ hat die EU jetzt einen wichtigen Rechtsrahmen aufgesetzt. Denn eines ist sicher: Unsere Industrie kann nur Erfolge erzielen, wenn mehr Daten geteilt werden.

Kegel: Die Industrie benötigt tatsächlich klare rechtliche und praxistaugliche Rahmenbedingungen. Aber leider sind beispielsweise die Ziele der Datenschutzgrundverordnung – Datensparsamkeit – und des Data Acts – größtmöglicher Datenzugang – widersprüchlich. Zudem muss aus unserer Sicht die verpflichtende Weitergabe von Schutzrechten und Geschäftsgeheimnissen an Dritte gestrichen werden.

Wie also sieht die künftige Balance aus Globalisierung und technologischer Souveränität aus?
Schnorr: Wir werden innerhalb Europas enger zusammenarbeiten, flankiert durch Partnerschaften mit Ländern wie den USA und Japan, die mit uns die gleichen Werte teilen. Aber auch im Rahmen der G7 streben wir einen engeren Austausch an, beispielsweise bei Normierung und Standardisierung. Ich bin sehr zuversichtlich, dass uns das gelingen wird, denn der Druck auf alle Staaten ist aufgrund der aktuellen Ereignisse massiv gestiegen. Wir müssen die Tür aber auch für Gespräche mit anderen Teilen der Welt offenhalten, etwa China und Russland nach Putin.

Kegel: Unser Ziel muss bleiben, globale Wertschöpfungsnetzwerke zu erhalten und eine kluge Balance zwischen Selbstbestimmung und Globalisierung zu finden. Denn die Chancen der Globalisierung bleiben ja bestehen: Alleine in Afrika und Indien entstehen neue Märkte mit rund 2,5 Milliarden Menschen. Ich wünsche mir aber, dass die europäische Politik schneller und effizienter wird. Nur dann hat Europa in einer multipolaren Welt die Möglichkeit, wirklich souverän zu sein.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Text Christian Buck | Fotos Verena Brüning

 

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 4.2022 am 8. November 2022 erschienen.

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