AMPERE 2.2020
Im Gespräch: Dr. Myriam Jahn, Geschäftsführerin von Q-loud, und Prof. Dr. Ulrich Rüdiger, Rektor der RWTH Aachen.
Die Abbrecherquote in den Ingenieurwissenschaften ist hoch, der Frauenanteil in Fächern wie Elektrotechnik oder Informatik zu niedrig. Wie die Hochschulen gegensteuern sollten und was die Unternehmen nachfragen, diskutieren Dr. Myriam Jahn, Geschäftsführerin von Q-loud, und Prof. Dr. Ulrich Rüdiger, Rektor der RWTH Aachen.
JAHN: Ja, klar! Trotz des Desasters am Flughafen Berlin können wir immer noch von einer Marke reden, wenn es um das Ingenieurstudium in Deutschland geht. Im Ernst: Das Studium ist attraktiv, und anschließend warten viele gute Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in den Konzernen, aber gerade auch im starken Mittelstand.
JAHN: Wir benötigen viel mehr Grenzgänger, also Nachwuchskräfte, die gute Grundlagen in den klassischen Gebieten wie Maschinenbau oder in unserem Fall vor allem Elektrotechnik haben, sich aber auch mit Automatisierung und Informatik auskennen. Den Gesamtüberblick zu haben, wird immer wichtiger.
RÜDIGER: Das kann ich nur bestätigen, und wir tun alles dafür, dass Sie solche Leute auch bekommen. In unserer Strategie haben wir explizit formuliert, dass wir die Konvergenz der Disziplinen wollen. Dafür haben wir Profilbereiche wie Energie, Mobilität oder auch Medizintechnik gegründet, in denen die Studierenden ihr Grundlagenwissen mit Anwendungen verknüpfen und reale Probleme lösen. Die Einzeldisziplin hat zunehmend ausgedient.
JAHN: Das ist ein guter Ansatz, allein über Mechanik zum Beispiel kann man sich nicht mehr differenzieren. Im Unternehmen haben wir oft aber ein ganz anderes Problem: Es gibt so viele Studiengänge mit ebenso vielen Bezeichnungen, dass es uns schwerfällt, bei der Vielzahl der Bewerbungen die richtigen Kandidatinnen und Kandidaten zu finden. Wir bräuchten bessere Kriterien, nach denen wir die Menschen finden, die sich im Bereich IT auskennen.
RÜDIGER: Ja, viele Hochschulen bieten Studiengänge an, die schon in der Beschreibung hochspezialisiert sind. Die Ausdifferenzierung findet schon im ersten Semester statt – und die Schülerinnen und Schüler, die sich dafür interessieren, müssen schon vorab wissen, was dahinter steckt. Allerdings ist die Nähe zur späteren Anwendung auch gefragt. Diese Herausforderung begleitet uns ja schon immer: Wie viel grundständiges Studium wollen wir, also wie viel breites Grundlagenwissen, und wie viel spezialisiertes Wissen, das schon schnell in der Praxis zu nutzen ist?
RÜDIGER: Die jungen Leute sollen früh einen soliden Theorieteil bekommen, danach aber schnell auch verstehen lernen, welche verwandten Gebiete es gibt und wie sich ihr Wissen in der Praxis anwenden lässt. Wir wollen sie zu „T-Shaped-Scientists“ ausbilden, also zu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die eine hohe Expertise in einem Spezialgebiet haben, aber eben auch ein großes Breitenwissen über benachbarte Disziplinen und ein hohes Maß an Soft Skills. Wir sind kein Unternehmen, unsere Studierenden sollen sich aber daran orientieren können, was die Unternehmen benötigen. Auch dafür kooperieren wir früh mit Unternehmen, von denen wir alleine 400 auf dem Campus der RWTH Aachen haben. Dass diese Übertragung funktioniert, lässt sich auch daran ablesen, dass wir jedes Jahr circa 60 Ausgründungen aus der RWTH haben.
RÜDIGER: Wir ermöglichen ihnen mit dem Programm „Guten Studienstart im Ingenieurbereich“, das Studium am Anfang so flexibel wie möglich zu gestalten. Das erste Jahr bieten wir zum Beispiel in Kooperation mit der Fachhochschule Aachen an. Danach können sich die Studierenden entscheiden, wo sie weitermachen wollen. Sie sollen nicht erst nach einigen Jahren merken, dass sie an der für sie falschen Hochschule waren.
Außerdem fangen wir in einigen Fächern – zunächst in Physik, hoffentlich bald auch in weiteren Fächern – an, den Bachelor wahlweise drei- oder vierjährig anzubieten. Wir werden unsere Angebote immer weiter individualisieren. Das müssen wir auch, da mittlerweile 50 Prozent eines Jahrgangs studieren und damit auch eine immer diversere Studierendenschaft zu uns kommt.
JAHN: Das ist ein guter Ansatz, finde ich. Die Gesellschaft wird immer vielfältiger, und damit werden es auch die Studierenden. Gleichzeitig benötigen wir auch diese Vielfalt, wenn wir zum Beispiel jemanden suchen, der zwar ein Thema beherrscht, aber auch ein Verständnis für den Vertrieb hat. Die Berufsanfänger, die momentan zu uns kommen, sind oft sehr gut in ihrem Fach, gerade auch in den hochinnovativen Bereichen, sind aber als Menschen noch nicht fertig. Wie denn auch, sie sind eben noch sehr jung.
RÜDIGER: Es ist wirklich nicht einfach, neben den fachlichen Anforderungen des Studiums Zeit zu finden, über den Tellerrand zu schauen und Soft Skills zu erwerben, aber wir wollen unsere Absolventinnen und Absolventen mit einem moralischen Kompass entlassen, der sie zu verantwortlichem und ethisch einwandfreiem Arbeiten befähigt.
JAHN: Ich finde das enorm wichtig, denn gerade in unseren Disziplinen ist nicht immer das richtig, was technisch auch machbar ist. Die Beobachtung mache ich auch bei manchen jungen Leuten, die wenig hinterfragen, was sie tun, sondern vor allem die Herausforderung sehen, etwas möglich zu machen.
RÜDIGER: Für mich gehen Freiheit und Autonomie mit Verantwortung einher. Ich bin immer wieder dazu aufgefordert, mich selbst zu fragen, welche Folgen meine Forschung hat. Mein Problem ist nur, dass ich das nicht alles in die Prüfungsordnung aufnehmen kann. Wir rufen die Studierenden immer wieder dazu auf, selbstbewusst zu sein, sich zu engagieren, in Hochschulgruppen, sozial, politisch, kulturell. Außerdem führen wir gerade unsere verschiedenen Kommissionen zusammen, die sich mit den Themen Verantwortung und Ethik beschäftigen, und wollen in Zukunft Online-Kurse dazu anbieten. Die Studierenden müssen sich treffen, reiben, zanken können – und dafür müssen wir als Universität auch den Rahmen und die Atmosphäre bieten, die dazu Gelegenheit gibt. Deswegen finde ich es übrigens auch enorm wichtig, dass Lehre vornehmlich von Mensch zu Mensch stattfindet. Nur so funktioniert das.
RÜDIGER: Wir müssen ihnen zeigen, dass das, was sie hier lernen, wichtig für die Gesellschaft ist. Junge Frauen finden das tendenziell noch wichtiger als die Männer, zumindest haben wir den Eindruck. Und wer ein Ingenieurstudium beendet hat, kann sich einbringen, in Zukunftsbereichen wie Mobilität, Energie, Klimaschutz oder Nachhaltigkeit. Die Ingenieurwissenschaften haben einen ebenso großen Einfluss wie die Gesellschaftswissenschaften darauf, wie wir künftig leben wollen und können.
JAHN: Aus meiner Sicht haben junge Frauen tendenziell eher einen ethischen Anspruch an ihre Arbeit. Junge Männer sind oft sehr gut in ihren Bereichen, haben aber einen eher eng fokussierten Blick auf die Dinge. Meines Erachtens studieren Frauen öfter auch ein technisches Fach, um etwas verändern zu können. So gehen die wenigen, die es überhaupt im Bereich Ingenieurwissenschaften gibt, oft in Richtung Umwelttechnik. Für die Informatik bleiben sehr wenige übrig; in der Elektrotechnik sieht es noch trauriger aus. Ich kenne das aus meinem eigenen Studium. Als ich vor 30 Jahren angefangen habe, hier an der RWTH Informatik zu studieren, waren wir fünf Frauen und 150 Männer.
RÜDIGER: Das ist zum Glück besser geworden, aber immer noch nicht ausreichend. Im Maschinenbau haben wir weniger als 15 Prozent Frauenanteil, in der Elektrotechnik und Informationstechnik rund 20 Prozent. Wir verschenken also eine Menge Potenzial, wenn wir unser Studium nicht attraktiver für Frauen machen.
JAHN: Den Stein der Weisen habe ich auch nicht, aber vielleicht wäre es einmal ein Anfang, einen reinen Frauenstudiengang einzuführen. Soviel ich weiß, ist die Wahrscheinlichkeit deutlich geringer, dass Mädchen von koedukativen Schulen etwas Technisches studieren. Wir müssen die jungen Frauen ja nur in diesen Fächern an die Hochschulen bekommen. Wenn sie erst einmal dabei sind, bleiben sie auch – die Studienabbruchszahlen sind bei Frauen deutlich geringer. Den Sinn der Studiengänge zu vermitteln, ist absolut der richtige Weg. Für Frauen wie für Männer.
RÜDIGER: Die Trennung der Geschlechter halte ich nicht für zielführend. Gemischte Teams sind aus meiner Sicht bessere Teams. Und das gilt auch schon im Studium. An der Sinnhaftigkeit der Bereiche anzusetzen, ist dagegen genau richtig. Nur zu sagen, dass die Berufsaussichten besonders gut sind, reicht nicht aus. Wir dürfen die jungen Leute nicht in etwas hineinzwängen, das sie emotional nicht wollen. Deswegen müssen wir besser kommunizieren, wie relevant das Ingenieurswissen ist.
Text: Marc-Stefan Andres | Fotografie: Henning Ross
ampere
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