Wenn Sie als EU-Kommissar dreimal eine Milliarde ausgeben könnten, in welche Felder würden Sie investieren?
Zunächst in das Edge Computing mit sehr geringem Energiebedarf, also maximale Prozessorleistung ohne aktive Kühlung – das ist sowohl für Auto- als auch für Industrieanwendungen künftig extrem wichtig. Des Weiteren bin ich davon überzeugt, dass Leistungselektronik mit hohem Wirkungsgrad in allen Hochvoltanwendungen ein wichtiges Feld ist – hier kommt neuen Materialien wie Siliziumkarbid eine Schlüsselrolle zu. Drittens würde ich in „Mixed-Signal“-Anwendungen investieren, also in alles, was analoge und digitale Signale verarbeiten kann. Denn beim Edge Computing ist die Mikroelektronik immer Teil der physischen Welt – gerade darin liegt ja der Unterschied zu einem Rechenzentrum.
In diesen Feldern braucht es dann ja nicht nur Spitzenforschung, sondern auch ausreichend hochqualifiziertes Personal. Finden Sie das aktuell in Europa?
Sicheres Edge Computing hat zwei Voraussetzungen: einerseits die Cybersicherheit, andererseits die funktionale Sicherheit. Experten in diesen Bereichen sind so rar, dass wir froh sind, wenn wir sie irgendwo auf der Welt finden – und dann stellen wir sie auch ein. Wir versuchen dabei allerdings schon, lokale Teams mit eigenen Schwerpunkten zu bilden.
Das heißt, Regionen, die über entsprechende Universitäten verfügen, haben auch höhere Chancen, dass Sie sich dort niederlassen?
Ja, sofern es sich um eine industrienahe und praxisorientierte Hochschule handelt. Allerdings lässt sich so etwas nicht kurzfristig aufbauen, indem man ein, zwei Lehrstühle finanziert. Erfolgreiche Cluster aus Wissenschaft und Industrie sind oft über Jahrzehnte gewachsen.
Bietet Europa denn das richtige Innovationsklima für Ihre Branche?
Wenn wir die komplette Wertschöpfungskette abbilden, dann wäre es natürlich ideal, wenn die Konsumenten in Europa etwas experimentierfreudiger wären. Denken Sie mal an die Geschwindigkeit, mit der hierzulande vor Covid-19 das kontaktlose Zahlen akzeptiert wurde. Es ist zwar erfreulich, dass sich das jetzt sprunghaft verändert, andererseits aber auch traurig, dass es dafür erst eine Pandemie braucht. Noch wichtiger ist allerdings, dass wir uns als Europäer betrachten. Die Förderprogramme, die wir hier diskutieren, könnten wir allein aus Deutschland heraus nicht finanzieren. Das wäre hoffnungslos! Jetzt, da die Spannungen zwischen China und den USA eskalieren, ergeben sich neue Chancen für uns Europäer, aber eben auch nur gemeinsam.
Stellen wir uns zum Ende noch einmal ein Datum vor: den 1. Januar 2030. Wo steht die europäische Mikroelektronik dann?
Auf jeden Fall ist sie noch vorhanden. Wenn wir alles richtig gemacht haben, hat sie eine führende Stellung im Edge Computing und den Mixed-Signal-Technologien. Mehr als 50 Prozent der Ingenieure, die in der Mikroelektronikbranche arbeiten, sind Software-Ingenieure. Und NXP ist dann die Nummer 1 in seinen Märkten, nicht nur in Europa, sondern weltweit.
Ganz schön optimistisch.
Mit Negativvisionen beschäftige ich mich gar nicht.
Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Sievers.
Text: Johannes Winterhagen | Fotografie: Matthias Haslauer