Status Quo

Welthandel oder Weltwandel?

Es ist eine markante Kurve, die Holger Görg immer wieder zeichnet. Auf einen langen steilen Anstieg folgt ein schluchtenartiger Einschnitt, doch schnell wird die zuletzt verlorene Höhe wieder erreicht. Fortan geht es auf einer Hochebene voran, die Kurve zittert nur wenig um eine Gerade ohne Steigung herum. Görg ist Volkswirt, hat eine Professur für Außenwirtschaft in Kiel und leitet eine Forschungsgruppe am Institut für Weltwirtschaft. Seine Zeichnung, auf dieser Seite oben wiedergegeben, verdeutlicht das Verhältnis von Güterhandel und Industrieproduktion in den letzten zwei Jahrzehnten. „Dass der Handel vor Ausbruch der Finanzkrise 2008 über lange Zeit stärker wuchs als die Warenproduktion, stellt eher eine historische Ausnahme dar“, erläutert Görg. „Dauerhaft wäre eine solche Entwicklung nicht nachhaltig.“ 

Bezieht man den globalen Handel auf die Weltwirtschaftsleistung, schwankten dessen Anteile in der Geschichte immer wieder, sagt Andreas Gontermann, Chefvolkswirt des ZVEI. 1913 betrug dieser Gradmesser für Offenheit 29 Prozent – um anschließend in den Wirren zweier Weltkriege einzubrechen. Es dauerte bis in die 1970er-Jahre, bis das Niveau von 1913 wieder erreicht wurde. 2008, vor Ausbruch der Finanzkrise, hatte der Welthandel einen Anteil von 61 Prozent am Bruttoinlandsprodukt der Welt – das war der bisherige Spitzenwert. Seitdem fällt das Verhältnis wieder. Dieses Jahr dürfte es, verstärkt durch die Corona-Krise, nur noch bei 48 Prozent liegen.

Mit Blick auf die beiden Statistiken stellt sich die Frage: Gilt plötzlich die Theorie der komparativen Kostenvorteile nicht mehr oder verliert sie zumindest an Bedeutung? Entwickelt hatte sie der britische Ökonom David Ricardo Anfang des 19. Jahrhunderts. Dabei griff er zu einem plakativen Beispiel: Wenn Portugal sich ganz auf die Weinproduktion und England auf die Tuchherstellung konzentrieren und beide ihre Waren austauschen würden, dann wäre die Arbeitsproduktivität in beiden Ländern höher und der Wohlstand nähme spürbar zu – in seinem Beispiel um insgesamt 200 Rollen Tuch und 125 Fässer Wein. 

Die handelspolitische Öffnung der bevölkerungsreichen Länder China und Indien sowie der Fall des Eisernen Vorhangs in Europa hat seit den 1980er-Jahren ermöglicht, die Thesen Ricardos einem harten Realitätstest zu unterziehen. Und tatsächlich: Nicht nur die Weltwirtschaft ist in dieser – in historischen Dimensionen – kurzen Zeit geradezu explodiert, sondern vor allem hat die Armut abgenommen. Der Schwede Johan Norberg, Autor des „kapitalistischen Manifests“, rechnet vor: „Obwohl die Weltbevölkerung zwischen 1990 und 2015 um mehr als zwei Milliarden Menschen gewachsen ist, ist die Anzahl der in extremer Armut lebenden Menschen um mehr als 1,25 Milliarden reduziert worden.“ In absoluten Zahlen sei die extreme Armut mittlerweile sogar geringer als im Jahr 1820.

„Obwohl die Weltbevölkerung zwischen 1990 und 2015 um mehr als zwei Milliarden Menschen gewachsen ist, ist die Anzahl der in extremer Armut lebenden Menschen um mehr als 1,25 Milliarden reduziert worden.”

Johan Norberg, Autor

Dennoch, das Erfolgsmodell der globalisierten Wirtschaft steht immer häufiger zur Diskussion. Nicht mehr nur in Peking und Washington ist vom Schutz der heimischen Industrie die Rede, sondern auch in Berlin und in Brüssel. Die Corona-Krise und die kurzzeitigen Engpässe in der Versorgung mit medizinischen Gütern mögen dabei der Auslöser sein. Doch vor allem offenbaren sie strukturelle Verschiebungen, die längst zuvor begonnen haben. Zum Beispiel in China, dessen Aufstieg zwar als „Fabrik der Welt“ begann, das aber den Handelsanteil an seinem Bruttoinlandsprodukt gezielt zurückschraubt. Betrug der Anteil im Jahr 2006 noch 64 Prozent, sank er zuletzt auf 32 Prozent. Immer mehr Vorprodukte, darauf weist Holger Görg hin, würden von chinesischen Unternehmen im eigenen Land gefertigt. Die strukturelle Abhängigkeit der deutschen Industrie vom chinesischen Markt nimmt hingegen bislang weiter zu. So waren im ersten Halbjahr 2020 die Top-10-Abnehmermärkte der deutschen Elektroindustrie alle rückläufig –mit Ausnahme von Polen und vor allem China: Die Exporte der Branche in das Reich der Mitte, ohnehin schon Absatzmarkt Nummer Eins, stiegen um 6,5 Prozent. 

Klaus John, beim ZVEI für den Außenhandel zuständig, zeichnet ein nüchternes Bild vom größten Handelspartner: „China verfolgt seine eigenen Interessen strategisch und konsequent.“ Für ihn lautet die Frage nicht, ob man das ändern kann, sondern was Europa dem entgegensetzen kann. „Wir brauchen eine ökonomische Diplomatie auf europäischer Ebene, die die Interessen in Handelskonflikten deutlich vertritt.“ Die eigene Stärke, etwa beim Setzen international gültiger technischer Standards, solle konsequent als Instrument eingesetzt werden.

Mehr noch als China beschäftigt John der US-amerikanische Protektionismus. Der habe nicht erst mit Donald Trump begonnen, aber in der aktuellen Präsidentschaft deutlich zugenommen. „Vor allem aber fehlt uns mittlerweile jede langfristige Berechenbarkeit“, so John. „Darauf ist die Europäische Union nicht vorbereitet.“ Stattdessen lasse man sich in Berlin, Paris und Warschau auseinanderdividieren. In einer unübersichtlichen geopolitischen Situation ebenso entschlossen wie geschlossen aufzutreten, sei eine der wichtigsten Aufgaben der neuen EU-Kommission. 

Es sind aber auch technologische Trends, die dazu führen könnten, dass der Welthandel mit Gütern künftig nicht mehr überproportional wächst. Denn im Zuge der Globalisierung wurden handarbeitsintensive Tätigkeiten in Niedriglohnstandorte verschoben, von den USA nach Mexiko, von West- nach Osteuropa und zuletzt sogar von den chinesischen Küstenstädten ins Hinterland. Lange schien diese Wanderung unaufhaltsam. Kein im Wettbewerb stehendes Unternehmen konnte sich leisten, die Kostenvorteile zu verspielen, die aus der Verlagerung resultieren. Neue Automatisierungskonzepte, unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ bekannt geworden, sollten es ermöglichen, auch kleine Losgrößen voll automatisiert zu fertigen. Zur Vision von Industrie 4.0 gehörte es von Anfang an auch, die Produktion in europäischen Hochlohnländern zu halten oder gar dorthin zurückzuholen. „Von einem solchen Zustand sind wir meiner Meinung nach aber noch sehr, sehr weit entfernt“, sagt Ökonom Holger Görg. 

„Langfristig wird es aber nicht zu einem Szenario kompletter Abschottung kommen. Die Vernunft setzt sich auf Dauer immer durch.”

Holger Görg, Institut für Weltwirtschaft

Er hält es für wichtiger, den wachsenden Anteil IT-gestützter Dienstleistungen am Welthandel zu betrachten. „Deren Anteil am weltweiten Wohlstandszuwachs steigt seit Jahren.“ Für die Elektrobranche weist Andreas Gontermann darauf hin, dass industrielle Dienstleistungen in der Regel gemeinsam mit der Hardware verkauft werden. Außerdem tauchten sie gar nicht erst in der Leistungsbilanz auf, wenn sie von Niederlassungen vor Ort erbracht werden.

Einig sind sich die Experten jedoch bei einem Gedankenspiel: Würde der Warenaustausch zwischen den Regionen aufgrund protektionistischer Maßnahmen und fortschreitender Blockbildung weitgehend zum Erliegen kommen, stiegen die relativen Produktionskosten für Güter – das Ricardo-Modell funktioniert eben in beide Richtungen. Moderne Automatisierungstechnik, ein Exportschlager der deutschen Elektroindustrie, könnte dann besonders gefragt sein. Schon heute stellen Komponenten und Systeme für die automatisierte Produktion in neun der zehn größten Exportmärkte die wichtigste Warengruppe. 

„Langfristig wird es aber nicht zu einem Szenario kompletter Abschottung kommen“, zeigt sich Görg optimistisch. „Die Vernunft setzt sich auf Dauer immer durch.“ Fordert man ihn auf, seine Kurve in die Zukunft weiter zu zeichnen, verläuft sie waagerecht – in etwa wachsen Industrieproduktion und Warenhandel also auch künftig im gleichen Maß. Corona, da ist sich der Wirtschaftswissenschaftler sicher, wird aus der Perspektive des Jahres 2030 nur noch als kurzer Ausschlag nach unten zu erkennen sein.

 

Text: Johannes Winterhagen

 

Dieser Artikel erscheint in der Ausgabe 4.2020 am 17. November.


ampere

Das Magazin der Elektro- und Digitalindustrie

Mit dem Magazin der Elektro- und Digitalindustrie ampere, das zwei Mal im Jahr erscheint, schaut der Verband über den Tellerrand der Branche hinaus.

Jede Ausgabe von ampere setzt sich kontrovers und informativ mit Themenschwerpunkten der Elektroindustrie auseinander, die aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden. Der Verband will mit dem Magazin den Dialog mit Entscheidungsträgern aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft stärken.