Licht und Schatten
Vieles ist bereits auf einem guten Weg, etwa beim Recycling von Elektroschrott. Aber viele Potenziale werden noch nicht voll ausgeschöpft.
ampere 2.2024
Zwiegespräch
Nachhaltigkeit und Wirtschaftswachstum bedingen sich gegenseitig, da sind sich Dr. Gunther Kegel und Anna Cavazzini einig. Im Interview diskutieren der ZVEI-Präsident und die Abgeordnete von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Europäischen Parlament über die verschiedenen Instrumente, mit denen eine nachhaltige und zugleich wirtschaftlich erfolgreiche Zukunft gestaltet werden kann.
Frau Cavazzini, gegen den Klimawandel können die Unternehmen in der EU einen großen Beitrag leisten. Wie weit sind diese bei der nachhaltigen Transformation der Wirtschaft?
Cavazzini: In den vergangenen fünf Jahren haben wir mit dem Green Deal eines der größten Klimapakete der Welt auf den Weg gebracht. Das lässt sich auch an Zahlen ablesen: Seit Einführung des europäischen Emissionshandels ist die Wirtschaft um 67 Prozent gewachsen, die Emissionen sind um 32 Prozent gesunken. Wir können also Wachstum generieren und gleichzeitig klimaneutraler werden. Aber wir sind natürlich noch nicht am Ziel. Den Weg, den wir eingeschlagen haben, müssen wir weitergehen.
Kegel: Der Beweis ist längst erbracht, dass wir für Wohlstand sorgen und trotzdem unsere Klimaziele erreichen können. Seit 1990 hat sich unser Bruttoinlandsprodukt jedes Jahr durchschnittlich real um 1,2 Prozent nach oben bewegt, der Ausstoß von Treibhausgasen ist demgegenüber im Schnitt um 1,9 Prozent zurückgegangen. Diese Entwicklung wollen wir als Elektro- und Digitalindustrie mit unserem Zielbild der All Electric Society weiter vorantreiben. Die Lösung gegen den Klimawandel heißt Innovation – und die Elektrotechnik ist die Branche, die mit ihren Technologien den Weg in eine klimaneutrale Zukunft bereiten wird.
Die Zahlen sehen gut aus, ist die Stimmung in der Wirtschaft ebenso positiv?
Kegel: Nach dem Steilwachstum in der Nach-Corona-Zeit haben wir nun aktuell eine deutliche Abkühlung bei den Auftragseingängen, von der die Elektrotechnik besonders betroffen ist. So ähnlich ist auch die Stimmung: Die Unternehmen tun sich schwer, weitere Aufgaben zu schultern, die mit der Transformation zusammenhängen. Wir sind uns sicherlich alle einig, dass wir dies nur durchstehen können, wenn wir die entsprechenden finanziellen, politischen und ressourcenspezifischen Möglichkeiten haben. Eine Wirtschaft, die nicht wächst, wird diese Transformationskosten nicht stemmen können.
Cavazzini: Die Probleme liegen aber nicht allein an den Nachhaltigkeitsaufgaben. Sie kommen aus multiplen Krisen, von Corona über den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine bis hin zur Energiepreiskrise und Inflation. Diese Herausforderungen mischen sich in einer Zeit, in der der Green Deal zu wirken anfängt. Daraus sollten wir nicht die falschen Schlüsse ziehen und das Engagement für mehr Nachhaltigkeit wieder zurückdrehen. Wenn wir unsere wirtschaftlichen Lieferketten resilienter machen wollen, müssen wir weiter von den fossilen Energiequellen wegkommen.
Kegel: Es ist uns aber noch nicht überall gelungen, den Beweis anzubringen, dass Ökologie und Ökonomie sich gegenseitig positiv beeinflussen können. Wir wollen Leitmärkte für nachhaltige Technologien schaffen, indem wir massiv in diese investieren. So einfach ist es aber leider nicht. Ein großer Teil der Welt will unser Tempo bei der Defossilisierung noch nicht mitgehen. Sobald die Wirtschaft negativ beeinflusst wird, machen die USA eine Kehrtwende, von China ganz zu schweigen.
Frau Cavazzini, Sie haben den Kopf geschüttelt, als es um die unterschiedlichen Geschwindigkeiten ging.
Cavazzini: Wir haben Zahlen, die beide Meinungen unterstützen, aber mir wird schwindelig, wenn ich sehe, in welchem Tempo China und auch die USA in Net-Zero-Technologien investieren. Wir müssen in Deutschland und in ganz Europa aufpassen, dass wir nicht hinterherhinken. Und auch Länder wie Indien oder Brasilien haben Kurs auf mehr Nachhaltigkeit genommen. Deswegen ist es für mich eher ein Wettbewerbsvorteil, wenn wir den Pfad der Transformation weitergehen und dort hinein investieren.
Kegel: Die beiden großen Mächte haben allerdings jeweils Ansätze, die wir nicht haben. Die USA finanzieren mit Zuschüssen, Steuergutschriften und Darlehen den Inflation Reduction Act, mit dem sie fast 370 Milliarden US-Dollar in einen Markt hineinpumpen, der eben klimafreundliches Investieren begünstigt. Unser Net-Zero Industry Act der EU hat dagegen kein Funding aus europäischer Sicht, wir brechen dieses wieder herunter auf die Mitgliedstaaten. Das ist ein klarer Nachteil. Bei der Geschwindigkeit sind wir auch China unterlegen, weil der Staat dirigistisch handelt. Das wollen wir natürlich nicht, und China wird die Rechnung für diesen Staatsdirigismus irgendwann sicherlich zahlen. Aber schneller sind sie dennoch. Auch deswegen, weil sie kosteneffizienter geworden sind.
Frau Cavazzini, das klingt dystopisch, wie Herr Kegel die Situation beschreibt. Was kann die EU tun, um die Unternehmen in Deutschland und in ganz Europa zu unterstützen?
Cavazzini: Noch einmal kurz zu China: Genau wie es Herr Dr. Kegel sagt, ist das autoritäre System des chinesischen Ansatzes nichts für uns, das ist klar. Wir sind in Deutschland und in weiten Teilen Europas stolz auf das gute Bildungs- und Sozialsystem, das wollen und müssen wir beibehalten. Ich finde es aber auch richtig und wichtig, dass wir auf der europäischen Ebene in den vergangenen fünf Jahren stärkere Instrumente entwickelt haben, die uns von der früheren handelspolitischen Naivität und dem Vertrauen, dass das WTO-System schon irgendwie funktioniert, wegbringen, hin zu einer geopolitischeren, polarisierten und multipolaren Welt. Dafür sind Trade-Defense-Instrumente wichtig, aber auch eine stärkere europäische grüne Industrie. Mit dem Net-Zero Industry Act können wir europäische Unternehmen unterstützen, die sich auf den Transformationspfad begeben. Durch eine Beschaffungspolitik mit einer regionalen Gewichtung können wir dann die ökologische, aber auch die industriepolitische Fliege mit einer Klappe schlagen. Ein Beispiel: Wir würden dann stärker den grünen Stahl aus Duisburg nutzen und eben nicht den Stahl aus China.
Herr Dr. Kegel, reichen Ihnen solche Aussagen und solche Instrumente?
Kegel: Wer als erster von einer CO2-intensiven auf eine CO2-freie Stahlproduktion umstellt, wird momentan nicht mit einem First-Mover-Vorteil belohnt, sondern erstmal mit deutlich höheren Kosten bestraft. Und das müssen wir irgendwie ausgleichen. Ich sehe aber noch einen anderen Ansatz, wenn wir beim Beispiel Stahl bleiben: Momentan sind Thyssen Krupp und die Krupp Mannesmann Hüttenwerke mit ihren deutschen Standorten allein für rund zehn Prozent der CO2-Emissionen des verarbeitenden Gewerbes in Deutschland verantwortlich. Mit weiteren Schwerpunktindustrien wie Chemie, Zement oder Aluminiumschmelzen liegen wir bei mehr als 60 Prozent. Es wäre viel sinnvoller, schwerpunktmäßiger auf diese Industrien einzuwirken und die anderen hintenanzustellen, weil diese kaum Hebelwirkungen haben. Die Elektro- und Digitalindustrie ist per se nicht energieintensiv. Unser CO2-Ausstoß pro Mitarbeiter liegt bei zwei Tonnen, das ist um den Faktor 40 kleiner als etwa in der Chemieindustrie. Die EU sagt aber, dass wir alle dasselbe tun müssen und werden zum Beispiel zu einer aufwendigen ESG-Berichtserstattung bis hinunter in den Mittelstand gezwungen. Im Geschäftsbericht von Pepperl+Fuchs müssen wir mittlerweile 800 Datenpunkte erheben, das sind doppelt so viele wie die reinen Geschäftszahlen.
Cavazzini: Der Emissionshandel hat den automatischen Effekt, dass die Unternehmen, die besonders viel CO2 produzieren, stärker betroffen sind als andere. Um den Import von Produktion aus Ländern zu erschweren, in denen die CO2-Reduktion günstiger ist, haben wir den Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM) eingeführt, auch auf Wunsch der heimischen Industrie, die wir damit schützen. Die Nachhaltigkeitsberichterstattung, die Herr Dr. Kegel anspricht, hat ja eine weitere Zielsetzung. Die Daten sind wichtig für Investitionsentscheidungen. Ich finde den Gedanken weiterhin richtig, dass die Finanzierungen insbesondere da hineinfließen sollen, wo sie einen größeren Effekt auf die Transformation haben. Aber ich finde auch, dass wir diese Instrumente regelmäßig evaluieren sollten. Wenn wir in fünf Jahren feststellen, dass die Nachhaltigkeitsberichterstattung in dieser Form nichts bringt, sollten wir für andere Instrumente sorgen.
Der Wohlstand und das Engagement sind in fast allen Ländern der EU auch durch das Erstarken der oft EU-kritischen rechten Parteien gefährdet. Welchen Beitrag kann die Wirtschaft für mehr Demokratie und eine offene Gesellschaft leisten?
Cavazzini: Mich hat es gefreut, dass im Europawahlkampf viele Unternehmen öffentlich gesagt haben, dass wir die europäische Integration und den Binnenmarkt brauchen, den die AfD ja ablehnt. Es würde unsere gesamte Wertegemeinschaft zerschlagen und auch aus wirtschaftspolitischer Sicht großen Schaden anrichten, wenn die Extremrechten an die Macht kämen. Unternehmen müssen politisch neutral sein, aber sie sollten den Kampf für die Demokratie auch in ihren Belegschaften stärken.
Kegel: Wie Sie sagen, sind Unternehmen zur politischen Neutralität verpflichtet. Der ZVEI als Verband darf sich aber äußern und hat vor der Europawahl seine Mitglieder und die Öffentlichkeit adressiert. Rechtsextreme sind wirtschaftsfeindlich und wirtschaftsschädlich. Wir brauchen offene Märkte und eine gezielte Migration in den Arbeitsmarkt, um unseren Fachkräftemangel decken zu können. Und dafür brauchen wir eine offene Gesellschaft, in der wir alle gerne leben wollen.
Text Marc-Stefan Andres | Bilder European Commission, Büro Cavazzini, ZVEI/ Laurence Chaperon, ZVEI/Robert Haas
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 2.2024 am 14. Oktober 2024 erschienen.
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