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30.01.2020

Holländische Krankheit

Als man 1959 unter der Erde von Groningen das mit fast drei Billionen Kubikmetern größte Gasfeld in Europa entdeckte, waren sich die Niederländer sicher, dieser Fund sei ein Segen für ihre gesamte Volkswirtschaft. Es kam anders. Die Rohstoffrente wurde genutzt, um den Sozialstaat auszubauen. So stiegen die Löhne und damit die Kosten heimischer Produktion. Als in den 1970er Jahren die Exportpreise für Gas anzogen und der holländische Gulden – die damalige Landeswährung – stark aufwertete, wurde die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Niederlande weiter beeinträchtigt.

Das Phänomen, dass ein starker Rohstoffsektor über eine Aufwertung der heimischen Währung den anderen (Export-)Bereichen und damit der gesamten Wirtschaft schaden kann – und so am Ende mehr Fluch als Segen ist –, wird seitdem als „Holländische Krankheit“ bezeichnet. Heilung kam für die Niederlande erst mit dem 1982er „Abkommen von Wassenaar“, in dem sich die Tarifpartner auf Lohnzurückhaltung für mehr Arbeitsplätze einigten.

Zwar haben andere rohstoffreiche Länder daraufhin immer wieder versucht, die Falle zu umgehen, etwa indem sie ein System fester Wechselkurse eingeführt oder die Exporterlöse aus den Verkäufen ihrer Ressourcen in Staatsfonds gesteckt haben. Gleichwohl lässt sich bis heute beobachten, dass viele Rohstoffländer Probleme in den übrigen Wirtschaftssektoren haben. Ein trauriges aktuelles Beispiel ist Venezuela, wo man statt einer Verständigung à la Wassenaar auf die Notenpresse gesetzt und so die Inflationsrate zwischenzeitlich auf mehr als eine Million Prozent hochgetrieben hat. 

Zwei Arbeitspapiere des Internationalen Währungsfonds (IWF) zeigen, dass die „Holländische Krankheit“ nicht nur über den Wechselkurskanal einfallen kann, sondern auch über Schwächen im heimischen Bankensystem. Das Argument lautet dabei wie folgt: Die Kreditinstitute in ressourcenreichen Ländern investieren vorrangig in den Rohstoffsektor und versorgen diesen mit Darlehen. Die anderen Wirtschaftszweige vernachlässigen sie dagegen, und zwar sowohl in konjunkturellen Auf- als auch in Abschwüngen. Hier fehlen also die Finanzierungsmittel. Gleichzeitig wird der Bankensektor einseitig abhängig vom Rohstoffsektor. Nigeria bietet da Anschauung. Als der Ölpreis 1998 einbrach, mussten 28 Banken geschlossen werden, in der 2009er Krise dann nochmals zehn. Und als der Ölpreis ab 2014 wiederum abwärts tendierte, stand das Finanzsystem erneut vor großen Herausforderungen.

Der Wirkungskanal über das Bankensystem hilft auch zu erklären, warum in vielen Rohstoffländern die Wirtschaft insgesamt trotz Ressourcenreichtums oft vergleichsweise unterentwickelt ist. Denn wie die Geschichte zeigt, führen Bankenkrisen regelmäßig zu tieferen Rezessionen. Zudem fällt die nachfolgende Erholung schwächer aus als nach Abschwüngen, die ihre Ursache außerhalb des Finanzsystems haben.

Noch einen Punkt machen die beiden IWF-Papiere. Demokratisch verfasste Länder würden von Rohstoffpreisschocks weniger hart getroffen als andere politische Regimes. Das könnte daran liegen, dass Demokratien Probleme mit Korruption (welche den Kreditfluss noch mehr in den Rohstoffsektor lenkt) besser im Griff haben. Allerdings braucht der Aufbau von Demokratie viel Zeit. So genannte makroprudenzielle Politiken, die dafür sorgen, dass der Bankensektor nicht zu einseitig auf Rohstoffunternehmen setzt, könnten da schneller wirken.

Dr. Andreas Gontermann

Konjunktur & Märkte

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