Heißes Eisen

„Nachhaltigkeit und Bezahlbarkeit in Balance bringen“

Die Mobilitätsstudie von Continental zeigt, dass das Auto nicht nur in Europa und den USA, sondern auch in chinesischen Metropolen der wichtigste Verkehrsträger bleibt. Gilles Mabire, Chief Technology Officer für das Autogeschäft des Zulieferers, will Autos daher durch Digitalisierung und Vernetzung nachhaltiger machen.

Leidenschaft ist das erste Wort, das Gilles Mabire einfällt, wenn er über die Beziehung der Deutschen zum Auto nachdenkt. Der gebürtige Franzose arbeitet seit 19 Jahren in Deutschland. Als Chief Technology Officer des Automobilgeschäfts von Continental kann er sich selbst zwar auch für schöne Autos begeistern – aber vertraut doch lieber auf Daten und Fakten, wenn es darum geht, Technologieentwicklung zu steuern. Dazu trägt die Continental-Mobilitätsstudie 2022 bei, für die 6.000 Menschen in China, Deutschland, Frankreich, Japan, Norwegen und den USA befragt wurden. Die Studie zeigt: Mit relativ geringen Schwankungen sind die Einstellungen zum Auto global gar nicht so unterschiedlich. Es ist in allen Märkten der wichtigste Verkehrsträger. Zwischen 44 und 59 Prozent der Menschen nutzen das Auto täglich. Nur in Japan ist der Wert mit 27 Prozent deutlich geringer. Dafür stimmen dort neun von zehn Befragten der Aussage zu, dass sie Mobilitätsoptionen bevorzugen, in denen sie allein oder mit Bekannten unterwegs sind – mehr als in jedem anderen Land. Öffentliche Verkehrsmittel werden mindestens einmal pro Woche nur von etwa einem Viertel der europäischen Befragten genutzt, in den USA lag der Wert mit zwölf Prozent erwartungsgemäß am niedrigsten. In China nutzt die Hälfte der urbanen Bevölkerung regelmäßig die Öffentlichen.

Mabire wundern die Ergebnisse nicht. „Als Menschen wollen wir sicher und geschützt unterwegs sein. Diesen Bedarf deckt die individuelle Mobilität nach den Lockdowns der Coronapandemie besser als jeder andere Verkehrsträger“, so seine nüchterne Analyse. Daher sieht er sich und alle anderen Akteure in der Automobilindustrie in der Verantwortung dafür, klimafreundliche individuelle Mobilität zu ermöglichen. Doch was kann ein Zulieferer, der weder Batterien noch Elektroantriebe herstellt, dazu überhaupt beitragen? „Wir dürfen die Themen Digitalisierung, Vernetzung und Nachhaltigkeit nicht unabhängig voneinander betrachten“, sagt Mabire. Das softwarebasierte Auto der Zukunft soll durch das Zusammenspiel mit der Infrastruktur zu einem flüssigeren Verkehr und geringerem Energiebedarf beitragen. Zudem ermögliche die Digitalisierung neue Mobilitätsformen wie Carsharing, Mikromobilität oder autonome Shuttles.

Dass Automatisierung und andere digitale Technologien im Auto zu einem flüssigeren und energieeffizienteren Verkehr beitragen, gilt längst als erwiesen. Die 2022er-Studie zeigt zudem: Mindestens die Hälfte aller Befragten hält automatisiertes Fahren für eine sinnvolle Weiterentwicklung. Am höchsten ist die Akzeptanz in China, wo 89 Prozent der Befragten dieser Aussage zustimmten. Doch der Blick auf neue Technologien wird durch die Sorge um deren Bezahlbarkeit getrübt. So befürchten 79 Prozent der Deutschen, dass die neueste Technologie Autos verteuere.

„Unsere Aufgabe ist es, individuelle Mobilität für alle zu ermöglichen und erschwinglich zu gestalten“, sagt Mabire entschieden. Damit individuelle Mobilität trotz neuer Technologien bezahlbar bleibt, müsse die technische Komplexität deutlich reduziert werden. Der Schlüssel dafür: Zunehmend Software und optimierte Hardware. Künftige Elektronikarchitekturen für das Auto werden ganz anders aussehen. Wenige Hochleistungscomputer an Bord übernehmen die Aufgaben, die derzeit noch von Dutzenden Steuergeräten erfüllt werden. Über die Verbindung mit einer Cloud können nicht nur Updates der im Fahrzeug installierten Software, sondern auch zusätzliche Funktionen angeboten werden. „Da die Grenzkosten für solche Angebote sehr gering sind, können wir Nachhaltigkeit und Bezahlbarkeit in Balance bringen“, zeigt sich Mabire optimistisch.

In fünf bis acht Jahren, so prognostiziert es der CTO, wird sich unser Blick auf individuelle Mobilität komplett gewandelt haben. Dazu trage nicht nur die Elektromobilität bei, sondern auch die deutlich gestiegene Sicherheit und die Einbindung in ein vernetztes Mobilitätsökosystem. „Das eigene Auto wird wieder zum Wunschobjekt.“ Auf dem Weg dahin, das gibt Mabire zu, sei der eine oder andere Geburtsschmerz unvermeidlich. Die komplette Industrie sei noch dabei, ihre Strukturen an die Erfordernisse einer modernen Softwareentwicklung anzupassen. Dazu gehöre es, Strukturen und Prozesse zu verändern und sich unternehmensübergreifend auf neue Standards zu einigen. Mitarbeitende mit Elektrotechnik- oder Maschinenbaustudium müssten geschult werden, weshalb Continental eine eigene Software-Akademie gegründet hat. Mehr als 25.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bilden sich hier aktuell weiter. 

Mabire warnt nicht nur intern davor, die Geschwindigkeit der Transformation in der Automobilindustrie zu unterschätzen. Das ist auch gut so, denn in allen Ländern ist laut Mobilitätsstudie die Gruppe derer, die ihr Auto künftig verstärkt nutzen wollen, größer als die jener, die weniger Auto fahren wollen. In China ist die Gruppe mit der gesteigerten Nutzung sogar größer als der Anteil der Menschen, die ihre aktuelle Autonutzung nicht verändern wollen. Wer diese Menschen für den Klimaschutz gewinnen will, muss Angebote machen, statt mit Verboten zu arbeiten.

„Das eigene Auto wird wieder zum Wunschobjekt.“

Gilles Mabire, Continental

 

Text: Johannes Winterhagen | Fotografie: Markus Hintzen

 

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 4.2022 am 8. November 2022 erschienen.



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