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Mitten im Marathon

Die Corona-Pandemie zeigt: Die Digitalisierung des Gesundheitssektors steckt in den Kinderschuhen. Die Übermittlung von Diagnosen und anderen Daten bedeutet für Ärzte und Labore oft einen Spießrutenlauf. Mit der Anfang 2021 eingeführten elektronischen Patientenakte (ePA) soll dies endlich anders werden.

 

Wie es ist

Seit Januar 2021 haben gesetzlich Versicherte Anspruch auf die elektronische Patientenakte. In einigen Regionen können Patienten nun bei ausgewählten Ärzten Blutwerte, Röntgenbilder und andere medizinische Informationen in einem digitalen Tresor sammeln und anderen Ärzten zur Verfügung stellen. Diese haben dann Einblicke in die Behandlungshistorie. Das erspart Recherchen und unnötige Untersuchungen – vorausgesetzt, der Patient macht mit. Denn die ePA ist freiwillig, und beworben wurde die Akte bisher kaum. Ab Mitte 2021 sollen alle gut 70 Millionen Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung sich mit den knapp 200.000 niedergelassenen Ärzten, Therapeuten und Krankenhäusern über die ePA austauschen können. Spätestens dann werde man die Vorteile zu schätzen wissen – so Bundesgesundheitsminister Jens Spahn.

Das „E-Health-Gesetz“ von 2015 legte den Grundstein für die Akte. Zunächst wurden die Leistungserbringer an die sogenannte Telematik-Infrastruktur (TI) angebunden. Für die Umsetzung ist das Unternehmen Gematik zuständig, und dieses hat seinen Auftrag zum 1. Januar 2021 erfüllt. Die ePA ist eine Anwendung auf dieser Infrastruktur. Sie wird in mehreren Stufen realisiert: Im zweiten Quartal 2021 sollen alle Leistungserbringer vernetzt sein. 2022 sollen Impfausweis, Mutterpass, das Untersuchungsheft für Kinder sowie das Zahnbonusheft digital abrufbar sein. Die ePA wird in Zukunft zudem digitale Überweisungen ermöglichen. Nicht zuletzt können Patienten ab 2023 freiwillig Daten der Forschung zur Verfügung stellen.

Ab Mitte 2021 sollen alle gut 70 Millionen Versicherten der gesetzlichen

Krankenversicherung sich mit den knapp

200.000

niedergelassenen Ärzten, Therapeuten und Krankenhäusern

über die ePA austauschen können.

Woran es noch fehlt

Während der Entwicklung der ePA mussten zahlreiche Kompromisse zwischen Nutzerfreundlichkeit und Datensicherheit, zwischen dem Drängen der Politik und dem Zögern einzelner Akteure, zwischen Funktionalität und Datenschutz geschlossen werden. Ein Beispiel dafür ist das Anmeldeverfahren zur ePA. Bei einigen Kassen müssen Patienten in Geschäftsstellen vorsprechen, obwohl sich diese mitunter weit vom Wohnort entfernt befinden. Einige Kassen haben auf Video-Identifikationsverfahren umgestellt, was wiederum vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik als unsicher kritisiert wird. Allerdings wird dieses Verfahren auch von Banken zur Konto-Eröffnung eingesetzt, da Betrugsfälle selten sind. Solche Uneinigkeiten sorgen für Verunsicherung.

Diese wuchs noch, als im Vorfeld der ePA-Einführung klar wurde, dass in Arztpraxen bei der Implementierung der sogenannten Konnektoren zur Anbindung an die TI einiges schiefgehen kann. Security-Forscher um Christoph Saatjohann von der FH Münster entdeckten in der bisherigen TI 29 ältere Konnektoren, die ohne Authentifizierung erreichbar waren. Die Forscher hätten Zugriff auf die IT-Systeme der Einrichtung bekommen können. Die Gematik leitete Gegenmaßnahmen ein. 

Die Sicherheitsexperten bemängeln auch, dass die von der Gematik beworbene Ende-zu-Ende-Verschlüsselung nicht konsequent eingehalten werde, da der Schlüssel zur ePA nicht beim Patienten, sondern auf einem zentralen Server generiert wird. Dies ist sicher, solange ein Betrüger nicht an die ID-Karten der Leistungserbringer gelangt. Martin Tschirsich vom Chaos Computer Club konnte sich jedoch unter anderem einen Praxisausweis zuschicken lassen. Die Gematik hat sich dennoch für diese Lösung entschieden: Wären Patienten für den Schlüssel verantwortlich, würde dessen Verlust zu einem Verlust der Daten führen.

Eine weitere Kritik richtet sich an den Inhalt der ePA. In der ePA liegen die Informationen als Dokumente oder Bilder vor. Die Dokumente werden zwar mit Metadaten versehen, um sie auffindbar zu machen. Allerdings sind die Daten in den Dokumenten nicht automatisch mit maschinellen Lernverfahren auszuwerten. Die Vorteile der Digitalisierung zeigen sich aber vor allem in der Nutzung und Verarbeitung von Daten. So könnten ausgewählte Patientendaten über definierte Schnittstellen anderen IT-Systemen oder Apps zur Verfügung gestellt werden. Es gibt mehr als 40.000 Apps im Bereich Gesundheit allein im Google Play Store, darunter Apps wie Ada, die mit Künstlicher Intelligenz einem Nutzer eine Einschätzung geben, unter welcher Krankheit er leiden könnte. Solche Apps könnten durch die Anbindung an die ePA besser auf die Situation der Patienten reagieren. Damit der Austausch funktioniert, braucht es jedoch strukturierte Daten, die maschinell verarbeitet werden können, statt Dokumente, die betrachtet werden können. Und selbst wenn es diese Daten in der ePA gäbe, müsste noch geregelt werden, unter welchen Bedingungen der Datenschutz in der EU die Nutzung dieser Daten durch Apps erlaubt.

Es gibt mehr als

40.000

Apps im Bereich Gesundheit allein

im Google Play Store.

Was getan werden sollte

Ärzte weisen darauf hin, dass chronisch Erkrankte gerne bereit wären, ihre Daten leichter zur Verfügung zu stellen. Nicht umsonst sagt ein Arzt, dass der Datenschutz für Gesunde gemacht sei – hier müsste der Gesetzgeber mehr Pragmatismus zeigen. Schließlich verhindert die technische Implementierung der Verschlüsselungstechnik sogar, dass der Patient selbst einfach über einen Internetbrowser auf seine Patientendaten zugreifen kann. Wer kein Smartphone besitzt, muss über Umwege seine Daten managen.

Um die grenzüberschreitende ePA-Nutzung zu ermöglichen, wäre eine Standardisierung der Daten sowie der Verschlüsselungstechnik hilfreich – so könnten Daten leichter eingesehen und übersetzt werden. Es gibt bereits Ansätze, diese Probleme zu beheben. So ist die grenzüberschreitende Rezept-Einreichung eingeplant. Zudem erarbeitet die Kassenärztliche Bundesvereinigung Definitionen für „Informationsobjekte“ – das bedeutet, dass die wichtigsten medizinischen Werte künftig in einem Standardformat eingepflegt werden. Die Digitalisierung von Mutterpass und weiteren Funktionen dürfte die Standardisierung weiter vorantreiben. Auch die Zahlen sind ermutigend: Die Techniker Kasse verzeichnet bereits etwa 30.000 Downloads der ePA-App, die AOK etwa 10.000.

ZVEI-Fachverbandsgeschäftsführer Hans-Peter Bursig ist angesichts der Entwicklungen vorsichtig optimistisch: „So ein Ökosystem entsteht nicht mit der Erstinstallation, sondern Schritt für Schritt. Insofern ist es gut, dass es die ePA gibt – sie ist ein Fortschritt für Deutschland.“ AOK-Sprecher Peter Willenburg sagt: „Das Ganze ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Dabei wird es entscheidend auf die Akzeptanz der Ärzte ankommen.“

Die Techniker Kasse verzeichnet bereits etwa

30.000

Downloads der ePA-App, die AOK etwa

10.000.

 

Text Boris Hänßler | Graphik: Adobe Stock/ VectorMine

 

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 1+2.2021 am 3. Mai 2021 erschienen



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