Beste Praxis

„Gleichstromtechnik kann den Standort Deutschland stärken“

Gleichstromnetze senken die Energiekosten von Fabriken und entlasten die öffentlichen Netze. Bis sie Standard werden, vergehen jedoch noch einige Jahre. Weshalb, erklärt der CEO von Schaltbau, Dr. Jürgen Brandes. 

 

Herr Dr. Brandes, Sie haben gerade die Produktion in einer neuen Fabrik im bayerischen Velden aufgenommen. Energieerzeugung mit Photovoltaik (PV), Batteriespeicher und Verbraucher in dem neuen Werk haben Sie über ein Gleichstromnetz verbunden. Warum?
Weil wir bei dem Neubau auf den Schornstein verzichten und keinerlei fossile Brennstoffe mehr verbrennen wollten. 

Da war das Gleichstromnetz eine logische Folge? Schließlich sind PV-Module und Batteriespeicher Gleichstromkomponenten.
Sicher. Aber die Gleichstromtechnik bietet in der Industrie noch viel mehr Vorteile. So lässt sich mit ihr die Anschlussleistung, die Fabriken aus dem öffentlichen Netz beziehen um 60 bis 70 Prozent senken. Allein dadurch amortisiert sich ein Gleichstromnetz. Außerdem werden die öffentlichen Netze entlastet.

Welche Vorteile gibt es noch?
Da Sie ein Gleichstromnetz mit Batteriespeichern ausstatten können, erreichen Sie eine Verfügbarkeit von fast 100 Prozent, auch wenn es im Wechselstrom-Versorgungsnetz zu kurzzeitigen Unterbrechungen kommen sollte. Außerdem haben Sie erheblich weniger Energieverluste. Sie müssen Wechselstrom aus dem Netz ja nicht erst umwandeln. Zudem lässt sich überschüssige Energie, die etwa bei Bremsprozessen von Roboterarmen oder Liften in Hochregallagern entsteht, in einem Gleichstromnetz direkt zwischenspeichern und an anderer Stelle und zu einem späteren Zeitpunkt nutzen. In einem Drehstromnetz wird diese oft über Bremswiderstände regelrecht verheizt.

Ein Gleichstromnetz ist dagegen eine Art Kreislaufwirtschaft für Energie?
Genau.
 

DC - Direct Current
Gleichstrom kann Energieversluste in der Industrie deutlich verringern. 

Wie viel Energie lässt sich so sparen?
Wir gehen davon aus, dass ein Gleichstromnetz bis zu 15 Prozent effizienter ist als herkömmliche Lösungen. Weil Leistungsspitzen durch die Energiespeicher im System ausgeglichen werden können, lassen sich zudem Leitungen kleiner dimensionieren. Das spart Kupfer. Auch dadurch fallen Investitionskosten geringer aus. In Kombination mit anderen Maßnahmen wie dem Einbau von Energiespeichern und intelligenter Automatisierung wollen wir den gesamten Energieverbrauch des neuen Werks um 35 Prozent verringern.

Eignet sich Gleichstrom für alle Branchen? 
Die größten Vorteile haben Unternehmen, in denen Verbraucher in dynamischen Prozessen arbeiten. Also etwa die Automobilindustrie, die viele Roboter einsetzt, aber auch Logistikzentren, die Hochregallager betreiben. Datenzentren profitieren von der extrem hohen Verfügbarkeit der Stromversorgung, die durch die Gleichstromtechnik möglich wird. 

Warum setzen Unternehmen aus diesen Sektoren nicht schon lange auf Gleichstrom?
Weil es trotz des großen Potenzials noch keine Normen gibt, die beschreiben, wie sich Gleichstromtechnik sicher betreiben lässt. Wenn sie ein Gleichstromnetz planen und umsetzen, müssen sich Planer, Installateure und Ingenieure daher auf etwas einlassen, das ihnen oft nicht vertraut ist und wobei sie sich noch an keinem Standard orientieren können. Das macht ihnen Angst. Nichts bremst die Verbreitung der Gleichstromtechnik derzeit so sehr wie diese Furcht vor dem Ungewissen. 

Wo genau liegen die technischen Schwierigkeiten?
In einem Gleichstromnetz müssen Sie im Fall eines Kurzschlusses binnen Millisekunden eine Schaltung vornehmen, ohne einen Nulldurchgang zu haben. Es gibt also keinen Zeitpunkt, zu dem Sie schalten können, ohne dass gerade Strom fließt. 

Open Direct Current Alliance (ODCA)

Ende 2022 hat der ZVEI die Arbeitsgemeinschaft Open Direct Current Alliance (ODCA) gegründet. Schaltbau ist eines der Gründungsmitglieder. Ziel der ODCA ist der weltweite Aufbau eines Gleichstrom-Ökosystems und die anwendungsübergreifende Etablierung der Gleichstromtechnik. 33 Partner aus Industrie und Forschung beteiligen sich derzeit an der ODCA. 

Zur Webseite der ODCA

Wie haben Sie das in Ihrem neuen Werk gelöst?
Unter anderem mit vernetzten und miteinander kommunizierenden Schaltgeräten. Diese reagieren im Fehlerstromfall so schnell, dass ein sicheres Gleichstromnetz entsteht. Mit solchen Lösungen wollen wir in unserer Fabrik zeigen, dass die Gleichstromtechnik in der Industrie funktioniert und – sobald der Betrieb angelaufen ist – auch, dass sie sich rechnet. Zusammen mit Pilotprojekten, die derzeit in der Automobilindustrie laufen, hoffen wir, dass wir so immer mehr Planer, Ingenieure und Handwerker von den Vorteilen der Gleichstromtechnik überzeugen und Berührungsängste abbauen können. 

Wie lange wird es dauern, bis sich die Technik durchsetzt?
Unter Umständen wird das ein ganzes Jahrzehnt dauern.

Nehmen uns bis dahin nicht andere Staaten die Butter vom Brot?
Wenn wir es verschlafen, unseren Vorsprung in der Technik zu sichern und entsprechende Normen und Standards zu gestalten, werden Wettbewerber wie China sicher auf den Zug aufspringen. Wenn wir es aber richtig anstellen, kann die Gleichstromtechnik den Standort Deutschland stärken. Denn hiesige Unternehmen sind in der Fertigungstechnik und Automation die führenden Anbieter und die Vorteile der Gleichstromtechnik für die industrielle Produktion sind eklatant.

Herzlichen Dank für dieses Gespräch, Herr Dr. Brandes.

Dr. Jürgen Brandes

ist Vorstandsvorsitzender der Schaltbau GmbH in München. Bevor er die Leitung des mittelständischen Herstellers von Komponenten für Gleichstromnetze übernahm, war er fast zwei Jahrzehnte für Siemens tätig.

 

Text Gerd Mischler | Foto Schaltbau, Stefan Koeppel

 

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 1.2023 am 11. April 2023 erschienen.



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