Heißes Eisen

Raus aus der Steinzeit

Mit dem Digitalen Produktpass 4.0 und dem Projekt „PCF@Control Cabinet“ zeigt der ZVEI, wie Daten sinnvoll erhoben und über die gesamte Lieferkette weitergegeben werden können. Die Funktionalitäten des Schaltschranks, der beispielhaft konstruiert wurde, um die Entwicklung demonstrieren zu können, wachsen ständig – und damit auch seine Einsatzgebiete.

Als sich Dieter Wegener im Sommer 2017 ein altes Projektvideo anschauen wollte, konnte er den Videorecorder nicht mehr an sein Home-Entertainment-System anschließen. Die Anschlüsse passten nicht. Er fuhr zum Elektromarkt, kaufte einen Adapter, packte den Karton aus und schaute sich die dazugehörige, ein Zentimeter dicke Bedienungsanleitung an. Sein Sohn kam ins Zimmer und fragte ihn, was er mit dem Papierberg vorhabe. „Er sagte, dass das ja wohl Steinzeit sei“, erinnert sich Wegener, der bei Siemens als Vice President die nationale und internationale Forschungspolitik und Förderungsausrichtung verantwortet. „Dann zeigte er mir mit wenigen Klicks auf seinem Smartphone, wie ich ganz einfach die Bedienungsanleitung runterladen kann.“

Das Wort „Steinzeit“ störte den technikaffinen promovierten Luft- und Raumfahrttechnik-Ingenieur am meisten, der auch als Professor an der RWTH Aachen lehrt und als Sprecher des ZVEI-Management-Kreises Industrie 4.0 fungiert. Er ging joggen und ordnete seine Gedanken. Das Ergebnis: In den knapp fünf Jahren seitdem hat Dieter Wegener gemeinsam mit, wie er sagt, „Hunderten“ von engagierten Kolleginnen und Kollegen in zig Gremien daran gearbeitet, die Industrie bei einem wichtigen Thema aus der „Steinzeit“ in die Neuzeit zu führen. 

Entstanden ist dabei eine ganze Reihe von Innovationen. Am Anfang standen das digitale Typenschild und die sogenannte Asset Administration Shell, die Verwaltungsschale, die schon zuvor in der Community entwickelt worden war. Zusammen ergeben sie den auf zwei IEC-Standards basierenden Digitalen Produktpass (DPP 4.0). Das ist der digitale Zwilling eines Produktes, in dem viele verschiedene Informationen abgelegt werden, auf die es zudem unterschiedliche Zugriffsrechte geben kann. Zu den hinterlegten Daten gehören zum Beispiel Zertifikate, Konformitätserklärungen und Bedienungsanleitungen – und das alles in unterschiedlichen Sprachen oder Ausführungen je nach Herkunfts- oder Zielland. „Außerdem könnten Unternehmen auch neue Geschäftsmodelle und digitale Services hinterlegen“, sagt Wegener.

Wie das funktioniert, zeigt Dieter Wegener an einem IO-Modul, auf das das CE-Kennzeichen und andere Siegel aufgelasert sind. Daneben ist aber auch ein QR-Code zu sehen. Er scannt ihn mit seinem Smartphone ein, worauf eine Website zum Produkt erscheint, mit allen möglichen Siegeln, Zertifikaten und Bedienungsanleitungen in verschiedenen Sprachen. Das ist praktisch und könnte enorme Papiermengen sparen – alleine für dieses eine IO-Modul fallen jährlich etwa 12,5 Tonnen an, die den Kunden mitgeschickt werden müssen. „Müssen!“, bekräftigt Wegener. „Das hat die EU festgelegt, um die Verbraucherinnen und Verbraucher zu schützen.“ Eine digitale Bereitstellung ist nur eine Kann-Option. „Wir wünschen uns, dass das genau andersherum entschieden würde.“ Bei Industrieprodukten wie dem IO-Modul, die Firmen millionenfach verbauen, ergebe das sogar noch viel mehr Sinn als bei Verbraucherprodukten, sagt Wegener. 

Den Digitalen Produktpass nennt er das „Atom für die grüne Transformation“. Er ist zudem eine Grundlage für das „PCF@Control Cabinet“, weil er den firmenübergreifenden Datenaustausch ermöglicht. Den Schaltschrank hat der ZVEI gemeinsam mit 14 Unternehmen und Institutionen – mittlerweile sind es 30 – als anfassbares Vorzeigeprojekt entwickelt, um die Vernetzung und Digitalisierung in der Industrie 4.0 zeigen zu können. „Wir können nun Daten zu Produkten bis ins letzte Detail erheben und so zum Beispiel auch den Product Carbon Footprint, also den CO2-Fußabdruck, des Schaltschranks berechnen, der sich aus allen einzelnen verbauten Komponenten ergibt“, sagt Dieter Wegener, der das Konzept unter anderem Bundeskanzler Olaf Scholz, dem Bundesminister für Digitales und Verkehr Volker Wissing und Innenministerin Nancy Faeser auf dem Digitalgipfel 2022 vorgestellt hat. Der Schaltschrank, der immer weiterentwickelt wird, geht zudem auf Reisen, nach Belgien, Frankreich und Italien, sagt Dieter Wegener. „Wir wollen für unser Konzept werben: Nicht nur, um die Regularien der EU zu erfüllen, sondern auch, um neue Geschäftsmodelle zu erfinden und damit unsere Wirtschaft weiterzuentwickeln – auch branchenübergreifend.“

 

Text: Marc-Stefan Andres | Fotografie Elias Hassos

 

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 1.2023 am 11. April 2023 erschienen.

PCF@Control Cabinet auf dem Digitalgipfel 2022

Mitte Dezember hat Dr. Dieter Wegener auf dem Digitalgipfel Bundeskanzler Olaf Scholz, Bundesminister für Digitales und Verkehr Volker Wissing, Innenministerin Nancy Faeser und Anna Christmann, BMWK-Beauftragte für die Digitale Wirtschaft, den Show-Case PCF@Control Cabinet vorgestellt. Mehr erfahren Sie hier.



Erschienen in der Ausgabe 1.2023

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