Im Gespräch: ZVEI-Präsident Michael Ziesemer mit Prof. Dr. Jana Koehler, Deutsches Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz

"Künstliche Intelligenz für ein gutes Leben"

Digitale Assistenzsysteme, basierend auf Künstlicher Intelligenz, sollen den Menschen in immer mehr Lebensbereichen unterstützen. Über den gesellschaftlichen Nutzen diskutiert ZVEI-Präsident Michael Ziesemer mit Prof. Dr. Jana Koehler, die am Deutschen Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz den Forschungsbereich „Algorithmic Business and Production“ leitet. 

Wann haben Sie zum letzten Mal mit Alexa oder Siri gesprochen?

KOEHLER: Am Montag. Ich nutze Alexa vor allem, um Radio zu hören.

ZIESEMER: Vorgestern habe ich Siri genutzt, um eine Nachricht zu diktieren.

Ärgern Sie sich nicht manchmal darüber, wie wenig diese digitalen Assistenten verstehen?

KOEHLER:  Ich teste solche Systeme regelmäßig, zum Beispiel wie gut die Kontexterkennung ist. Etwa durch die Aufforderung: Spiel den Sender, den wir gestern gehört haben. Das kann Alexa leider noch nicht. 

ZIESEMER: So systematisch mache ich das natürlich nicht. Ich benutze Spracherkennung hauptsächlich während des Autofahrens, etwa um das Telefon zu bedienen. Dabei kommt es allerdings häufig zu Missverständnissen, jedes dritte oder vierte Mal. Mehr Intelligenz wünsche ich mir aber vor allem von meinem Navigationssystem. Es sollte lernen, wenn ich einen anderen als den vorgeschlagenen Weg bevorzuge.

KOEHLER:  Das weist darauf hin, dass wir die Beziehung Mensch-Maschine neu denken müssen. Maschinen müssen Erfahrungen von uns besser übernehmen können. Technisch wäre das auch heute für Ihr Navigationssystem machbar, es ist nur bis jetzt in den Diensten noch nicht  so vorgesehen.

 
Stellen wir diesen digitalen Assistenten nicht oft einfach die falschen Fragen?

KOEHLER: Vieles ist tatsächlich Spielerei, so wie der Kühlschrank, der selbstständig Lebensmittel bestellt. Aber denken wir an den Einsatz Künstlicher Intelligenz in der Radiologie zur Verbesserung von medizinischen Bildern oder die Optimierung von Verkehrsflüssen. Da sind gewaltige Fortschritte zu beobachten.

ZIESEMER: Die gesamte Digitalisierung hat wichtigere Ziele, als den Einsatz von Werbung zu optimieren. Produktivität und Klimaschutz zum Beispiel. Und vieles, was da vielleicht kommen mag, kennen wir noch gar nicht. Durch Brillen und Hörgeräte optimieren wir seit langem unsere physische Unzulänglichkeit, durch Antriebe und Hydraulik verstärken wir unsere Kraft. Warum sollten wir nicht auch – solange der Werkzeugcharakter erhalten bleibt – unsere kognitiven Fähigkeiten verbessern? Wichtig ist, dass der Mensch weiter die Verantwortung für seine Entscheidungen trägt.

Viele KI-Verfahren erlauben es allerdings nicht nachzuvollziehen, wie bestimmte Entscheidungsvorschläge zustande kommen.

KOEHLER: Lernende Systeme entdecken komplexe statistische Zusammenhänge, was aber nicht notwendig Kausalitäten spiegelt. Das ist ein großes Thema für die Forschung, aber durchaus lösbar. Mustererkennung basiert auf der statistischen Auswertung hochdimensionaler Daten. Hochdimensional bedeutet: im Millionenbereich. So treffen Menschen keine Entscheidungen. Also brauchen wir Abstraktionsschichten, ähnlich denen, mit denen Menschen die Vielzahl vorliegender Informationen sehr schnell filtern. Das technisch zu lösen, ist eine große Herausforderung. In meiner Forschung beschäftige ich mich nicht nur mit Vorhersage und Entscheidung, sondern auch mit Aktion. Denn auf die Aktion kommt es am Ende an, vor allem wenn es um mehr als das Einblenden von Werbung geht.

ZIESEMER: Gleichzeitig ist das Potenzial in anderen Anwendungen sehr viel höher. So wäre die Energieeinsparung enorm, wenn wir Wettervorhersage und Heizung und Belüftung unserer Gebäude verknüpfen. Heutige Regelungen basieren auf dem Ist-Zustand, das führt permanent zu Überschwingern. Ich will aber noch einmal auf die Transparenz zurückkommen. Denn auch ein statistischer Zusammenhang kann beschrieben werden. Und er muss beschrieben werden, sonst bekommen wir die Akzeptanz für KI-Technologien nicht.

KOEHLER: Ich würde da differenzieren. Lernverfahren führen ja erst einmal zu Prognosen. Erst danach werden Entscheidungen getroffen. Das sind unterschiedliche Methoden mit unterschiedlicher Transparenz. Entscheidungsmodelle können durchaus transparent gestaltet werden. Für mich hat das auch ein wenig mit Vertrauen zu tun. Wenn ich nur an mein Auto denke: Ich habe keine Ahnung, wie die Bremsen funktionieren, aber sie tun es. Nach 70 Jahren Forschung kommt Künstliche Intelligenz jetzt in breite Anwendungen, da haben wir dieses Vertrauen noch nicht.

ZIESEMER: Transparenz ist aber – neben einem entsprechenden Nutzen –die Voraussetzung für Vertrauen. Das kann nicht nur eine Frage der Wissenschaft sein, sondern hängt auch von der Kommunikation der Industrie ab. Wir müssen darauf achten, die Zivilgesellschaft mitzunehmen.

KOEHLER:  Das kann ich nur unterstreichen. Nicht zuletzt hängt das Vertrauen auch am Geschäftsmodell. Gerade im Internetbereich haben wir in den letzten Jahren viele Lösungen gesehen, die Menschen zu Recht beunruhigen. Etwa Geschäftsmodelle, die scheinbar auf Gratisdienstleistungen, in Wirklichkeit aber auf der unkontrollierten Verwendung der Nutzerdaten beruhen. 

Ganz anders sieht das Geschäftsmodell für den Einsatz intelligenter Roboter in der Fabrik aus. Wann kann man einen Roboter wie einem Lehrling einfach zurufen: Such mir mal einen Schraubendreher?

KOEHLER: Das wird noch etwas dauern, funktioniert in einfacher Form aber schon jetzt im Labor. Ich denke aber, Entwicklungen, die den Menschen nur als Kostenfaktor betrachten, gehen ohnehin in die falsche Richtung. Ich bin davon überzeugt, dass wir zurückfinden in eine Betrachtung des Menschen als Quelle der Wertschöpfung und der Kreativität. Momentan betrachten wir nur einzelne Prozessschritte und versuchen, diese so hoch zu automatisieren wie möglich. Das sind lokale Optimierungen, die durchaus positive Effekte haben können. Wenn wir aber die komplette Gesellschaft anschauen, dann ist ein solches System nicht mehr so effizient – etwa wenn ich mir die Verarmung vieler Menschen in Deutschland anschaue. Das kostet uns auch etwas! Der Mensch braucht Aufgaben, nicht mehr Sozialhilfe. 

ZIESEMER:  Der Mensch will nicht alimentiert werden. Deswegen bin ich auch gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen. Stattdessen müssen wir Stellen schaffen. Ich bin da aber auch optimistisch: Die eigentliche physische Wertschöpfung ist viel weniger von der Digitalisierung betroffen als die administrativen und logistischen Prozesse um die Fertigung herum. Die Flexibilität des Menschen ist nicht zu schlagen. Es ist also nicht Mensch oder Roboter, sondern Mensch und Roboter. Zumal neue, datengetriebene Dienstleistungen neue Stellen schaffen. Nur sind dabei die Anforderungen andere, die Tätigkeiten sind in der Regel interdisziplinärer und kommunikativer. Deshalb müssen wir stark in Weiterbildung investieren.

KOEHLER: Das kann ich aus Projekten am DFKI bestätigen. So arbeiten wir beispielsweise mit der Textilindustrie zusammen. In dieser Branche landet jedes zweite Kleidungsstück im Müll, ohne dass es getragen wird. Eine enorme Ressourcenverschwendung, die daraus resultiert, dass die langfristigen Planungszyklen für Beschaffung, Produktion und Logistik und die volatile Nachfrage nicht zusammenpassen. Digitalisierung und insbesondere KI-Technologien können dazu beitragen, dass Planungsprozesse schneller und dynamischer werden. Zudem führt die höhere Dynamisierung in der Textilbranche dazu, dass die Produktion nach Europa zurückkehrt, zumindest an den Rand von Europa. Wenn wir die Produktion noch ein wenig stärker automatisieren, dann haben wir auch wieder Textilfabriken in Deutschland. Gleiches gilt beispielsweise für Kabelsätze im Automobil, wo die manuelle Montage schon aufgrund der immer kleiner werdenden Komponenten an Grenzen stößt. 

Da müsste die Politik ja jubeln.

ZIESEMER:  Zunächst muss die Wirtschaft ziehen. Das tut sie aber auch. Dann müssen die Gewerkschaften mitmachen – und das tun sie auch. Wenn wir die Stärken, die wir ohnehin haben, etwa als Ausrüster für die Fabriken der Welt, mit fortschrittlichen KI-Methoden verbinden, werden wir an Wettbewerbsfähigkeit gewinnen. Der Unterschied hinsichtlich des Lohnniveaus verschwindet dadurch nicht, wird aber weniger relevant. Stattdessen zählen die Nähe zum Kunden und die Qualität. Das ist auch unsere Botschaft an die Politik: Während die USA sich beim KI-Einsatz hauptsächlich auf den KI-Einsatz in Angeboten für Konsumenten konzentrieren und China viel Geld in den KI-Einsatz zur Überwachung der eigenen Bevölkerung steckt, kann Europa eine dritte Position einnehmen.

 
Das wäre dann die KI für die freie Welt.

KOEHLER: Ich würde es KI für ein gutes Leben nennen.

ZIESEMER:  Und ich eine KI für den B2B-Einsatz.

Beides ist Zielrichtung der Ende 2018 im Bundeskabinett verabschiedeten KI-Strategie. Spüren Sie davon schon etwas?

KOEHLER: Definitiv. Wir bekommen jetzt doppelt so viele Mittel für freie Forschung. Das ist noch immer ein kleiner Betrag, doch er ermöglicht uns beispielsweise, das zuvor erwähnte Optimierungsproblem in der Textilindustrie in Ruhe anzuschauen. 

ZIESEMER:  Natürlich könnten wir über die genannten drei Milliarden Euro diskutieren und fragen, wie viel Geld wirklich hinzukommt und was nur umgeschichtet wird. Aber das wirklich Motivierende an der KI-Strategie sind für mich die genannten zusätzlichen 100 Professuren. Das ist ein klares, überprüfbares Ziel. Neben Geld und guten Köpfen ist für Deutschland entscheidend, dass wir schneller von der Wissenschaft in die Anwendung kommen.

KOEHLER: Das darf aber nicht nur von staatlicher Förderung  abhängen.

ZIESEMER:  Sehe ich genauso. Wir brauchen mutige unternehmerische Entscheidungen! Dazu gehört auch, schnell kleine Pilotprojekte zu starten und nicht immer gleich nach der perfekten, allumfassenden Lösung suchen.

KOEHLER: Und viel Geld hilft sowieso nicht immer viel. Alexa und Siri sind Produkte von Unternehmen, die ursprünglich von drei bis fünf Menschen gegründet wurden. 

Frau Professor Koehler, Herr Ziesemer, herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Text: Johannes Winterhagen | Fotografie: Alexander Grüber



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