Heißes Eisen

Gemeinsam gegen die Permakrise

Fabian Zuleeg leitet das European Policy Center und ist ein ausgewiesener Kenner der Politik in Brüssel. Aus seiner Sicht kann es auf die aktuelle Häufung von Krisen nur eine Antwort geben: mehr Kooperation in Europa.

 

Ein Wort macht derzeit Karriere: „Permakrise“. Es beschreibt den neuen Zustand der Welt, in dem es keine Normalität mehr zu geben scheint. Erst die Covid-Pandemie, dann der Ukraine-Krieg plus Inflation – und all das vor dem Hintergrund des Klimawandels. Als Urheber des Worts gilt Fabian Zuleeg, Hauptgeschäftsführer des European Policy Center (EPC), einer bekannten Brüsseler Denkfabrik. Der Wirtschaftswissenschaftler beschreibt den grundlegenden Trend so: „Wir haben es mit immer neuen, miteinander verbundenen Krisen zu tun, die schwieriger zu bewältigen sind als alles bisher Dagewesene.“

Aus Zuleegs Sicht ist die Permakrise darum so gefährlich, weil sie auf eine angeschlagene Europäische Union trifft. Populisten schwächen vielerorts das politische Zentrum, Politik wird wieder nationaler – und kurzfristiger. Das sei genau die falsche Richtung, findet Zuleeg: „Europa muss strategischer denken und gemeinsamer handeln, um nicht von den Supermächten gegen die Wand gedrückt zu werden.“

Zuleeg leitet seit zehn Jahren das EPC und gehört zu den bekanntesten Köpfen im Brüsseler Politikbetrieb. „Ich bin zwar kein ausgesprochener Optimist“, erklärt er, „doch es ist wichtig, dass wir ehrlich sind.“ Was Europa bisher getan habe, reiche in Zeiten der Permakrise bei Weitem nicht mehr aus. Durch die EU müsse ein Ruck gehen. 

Was sollte in der nächsten Legislaturperiode reformiert werden? „Die EU muss in vielen Fragen von der Einstimmigkeitsregel abrücken.“ Um Blockaden durch einzelne Staaten in Zukunft zu verhindern, schlägt er das Modell „Mehrheit minus eins“ vor: Eine Entscheidung gilt auch dann als getroffen, wenn nur ein Mitglied dagegen stimmt. Als Alternative kann sich Zuleeg eine „Koalition der Willigen“ vorstellen: Eine Gruppe von Ländern tut sich zusammen und setzt einzelne Projekte mit einer Art Parallelhaushalt durch. Laut dem Vertrag von Lissabon sei das grundsätzlich möglich.

Ein Umdenken fordert Zuleeg auch in der Industriepolitik. „Hier nur national zu agieren, ist nicht mehr zeitgemäß.“ Der EPC-Chef weist auf ein grundsätzliches Problem hin: Die EU setzt sich viele ambitionierte Ziele, überlässt es jedoch den Mitgliedern, sie umzusetzen. Beispiel Klimaschutz: Im März 2023 hat die EU den „Net-Zero Industry Act“ veröffentlicht, der vorsieht, dass ab 2030 mindestens 40 Prozent der pro Jahr benötigten klimaneutralen Technologien in Europa produziert werden. Doch wo und mit welchen Mitteln Batteriefabriken, Wasserstoff-Elektrolyseure oder Windparks entstehen, entscheiden die nationalen Regierungen. So besteht die Gefahr, dass zu wenig und nur punktuell in grüne Technologie investiert wird. „Alle anderen Länder machen viel aktivere Industriepolitik – so wie die USA mit ihrem Inflation Reduction Act“, erklärt Zuleeg. Dem könne man nicht mit nationalem Kleinklein begegnen.

Mit Steuern lassen sich effektivere Anreize setzen als über Gesetze und Regularien.

Fabian Zuleeg

Generaldirektor des European Policy Center

Gemeinsames Handeln braucht auch gemeinsame Mittel. Deshalb sei es höchste Zeit, dass die EU über neue Finanzquellen nachdenkt, findet Zuleeg. Er kann sich vorstellen, dass die Union in Zukunft einen festen Anteil an den nationalen Unternehmens- und Verbrauchssteuern erhält. „Mit Steuern lassen sich effektivere Anreize setzen als über Gesetze und Regularien“, meint Zuleeg. Aber wie wird eine EU-Abgabe bei den europäischen Unternehmen ankommen, die im Vergleich zu Wettbewerbern aus den USA oder Großbritannien schon deutlich mehr Steuern zahlen? Zuleeg vertraut auf die Einsicht der Wirtschaft. Von der Idee einer EU-Steuer seien viele „nicht weit weg“.

Eines ist für Vordenker Zuleeg sicher: Die Permakrise wird von Dauer sein. Er sieht am Horizont schon die nächsten Wolken aufziehen. Sollte Donald Trump wieder Präsident der Vereinigten Staaten werden, dürfte sich das Verhältnis zur EU verschlechtern. „Er könnte sogar das transatlantische Bündnis infrage stellen.“ Hinzu kommen die Rivalitäten zwischen China und den USA, ein möglicher Konflikt um Taiwan und neue Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz. Für Zuleeg sind das alles Argumente für mehr Kooperation – nicht für Resignation. Denn trotz aller Herausforderungen durch die Permakrise ist der Europakenner von der Leistungsfähigkeit der Union überzeugt: „Wir sind die einzige Region, die es geschafft hat, so viele Dinge gemeinsam zu tun.“

 

Text Constantin Gillies | Fotografie Natalie Bothur

 

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 1.2024 am 15. April 2024 erschienen.



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