Blick ins Labor

„Ökonomische und ökologische Mehrwerte durch Antrieb 4.0“

Dr. habil Tassilo Schuster und Lara Schmidt vom Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS sind im Projekt „Reallabor Antrieb 4.0“ für die Leitung des ersten Arbeitspakets verantwortlich (Analyse von Anwendungsszenarien und Erhebung von Anforderungen an eine modulare Serviceplattform im Ökosystem Antrieb 4.0). Mit ampere sprachen sie über die Idee hinter dem Projekt und den aktuellen Stand.

 

Besonders für KMU ergeben sich Chancen. Die Implementierung energieeffizienter Antriebslösungen und digitalen Asset-Management-Systemen kann dazu beitragen, die Betriebskosten zu senken, die Produktivität zu steigern und Wartungsprozesse zu optimieren.

Dr. habil. Tassilo Schuster

Welches Problem löst Antrieb 4.0?

Schmidt: Die Digitalisierung und die vernetzte Wertschöpfung ermöglichen unter anderem widerstandsfähige Lieferketten, bessere Rohstoffverfügbarkeit und eine nachhaltige Wirtschaft in einer globalisierten Welt. Allerdings werden diese Potenziale bisher nur teilweise genutzt, bedingt durch die komplexe Vernetzung verschiedener Akteure und Objekte sowie die häufig proprietäre Natur der bisherigen Lösungen. Das führt zu isolierten Datensilos, die eine umfassende Transparenz und die Nutzung von Daten für Analytics-Anwendungen und Mehrwert-Services behindern.

Schuster: Das Verbundprojekt „Reallabor Antrieb 4.0“ zielt darauf ab, in enger Kooperation mit Antriebsherstellern herstellerneutrale Lösungen zu entwickeln, die als Grundlage für datengetriebene Services dienen können. Unser Ziel ist es, eine standardisierte Vernetzung innerhalb der Antriebssysteme zu etablieren, um damit die Datenverfügbarkeit, Transparenz und Interoperabilität zu verbessern – als Grundlage für die Entwicklung neuer Services und serviceorientierter Geschäftsmodelle.
 

Wie ist die Idee zu dem Projekt entstanden, und was waren die ersten Schritte?

Schuster: Die Idee entstand nach einem Vorprojekt, in dem 2019 das Whitepaper „Antrieb 2030“ entwickelt wurde. Es formulierte zwölf Thesen, die bis 2030 Veränderungen in Geschäftsmodellen, Wertschöpfung und Wertschöpfungssystemen im Kontext des Antriebssystems beschreiben. Das Projekt „Reallabor Antrieb 4.0“ will durch die Entwicklung innovativer gemeinschaftlicher Lösungen einen Schritt näher an diese Ziele herankommen.

Schmidt: Gemäß unserem ergebnisoffenen Ansatz haben wir damit begonnen, potenzielle Anwendungsfälle zu identifizieren, die sowohl ökonomische als auch ökologische Mehrwerte bieten. Im nächsten Schritt erfolgte eine Vorauswahl aus 36 Anwendungsfällen durch unsere Verbundpartner, wobei der Fokus auf wissenschaftlicher Innovation und den Forschungsinteressen sowie -ressourcen unserer Partner lag. In der letzten Phase bewerteten Antriebshersteller, Maschinen- und Anlagenbauer sowie Anlagenbetreiber mithilfe einer Online-Umfrage die zehn aus der Vorauswahl priorisierten Anwendungsfälle. Dabei lagen die Einschätzungen der Antriebshersteller oft erstaunlich nahe bei den Einschätzungen ihrer potenziellen Kunden.


Mittlerweile steht also fest, welche der ursprünglich 36 Anwendungsfälle umgesetzt werden?

Schuster: Die konkreten Anwendungsfälle sind nun definiert: „Digitalisiertes Asset Management“ und „Ganzheitliche energieeffiziente Auslegung von Antriebslösungen“. Das digitalisierte Asset Management ermöglicht die zentrale Bereitstellung aller relevanten Informationen eines Assets über seinen gesamten Lebenszyklus hinweg in einem standardisierten Format. Das ermöglicht es Anlagenherstellern und -betreibern, den Überblick über die zunehmend komplexe Anlagenstruktur zu behalten. Der zweite Anwendungsfall befasst sich mit der energieeffizienten Auslegung von Antriebssystemen durch Anlagenhersteller. Dies geschieht, indem Antriebskomponenten unterschiedlicher Hersteller kombiniert werden, um ein vom Betreiber vorgegebenes Last- und Bewegungsprofil möglichst energieeffizient zu erfüllen.
 

Im Rahmen des Projekts streben wir die Entwicklung eines Datenraums an, der den Grundsätzen der Gaia-X-Prinzipien entspricht.

Lara Schmidt

Wie geht es nach der Auswahl der Anwendungsfälle im Projekt weiter?

Schmidt: Nun sollen die technischen Vorgaben für die verschiedenen Systemkomponenten abgeleitet werden. Dies umfasst auf der untersten Ebene die technischen Rahmenbedingungen für eine herstellerunabhängige Kommunikation von Antriebssystemen. Die erfassten Daten auf der Feldebene sollen standardisiert in einem Datenraum bereitgestellt und bilateral zwischen verschiedenen Stakeholdern ausgetauscht werden.

Schuster: Gleichzeitig streben wir die prototypische Umsetzung der Anwendungsfälle in einem Reallabor-Demonstrator an. Dabei liegt der Fokus auf der Demonstration horizontaler und vertikaler Vernetzungen sowie eines modularen Hardwarekonzepts, das kooperativ an verschiedenen Standorten betrieben werden kann. Dies ermöglicht uns, die entwickelten Anwendungsfälle in der realen Welt erlebbar zu machen und die Vorteile der entwickelten Lösungen für das gesamte Wertschöpfungsnetzwerk in einem vorwettbewerblichen Umfeld zu präsentieren. Durch die Verallgemeinerung der IT-Infrastruktur, von Tools sowie der Data Analytics- und KI-Methoden können diese Modelle herstellerunabhängig eingesetzt und zwischen verschiedenen Antriebssystemen übertragen werden.

Wo werden die Daten der Antriebssysteme gespeichert? 

Schmidt: Im Rahmen des Projekts streben wir die Entwicklung eines Datenraums an, der den Grundsätzen der Gaia-X-Prinzipien entspricht. Gaia-X ist eine europäische Initiative für eine sichere und vertrauenswürdige Dateninfrastruktur, die für eine breite Palette von Anwendungen genutzt werden kann. Dieser Datenraum soll sowohl statische als auch dynamische Daten umfassen und dabei die Prinzipien der Datensouveränität gemäß den Gaia-X-Grundsätzen berücksichtigen.

Wer wird besonders von Antrieb 4.0 profitieren?

Schuster: Besonders für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) ergeben sich Chancen. Die Implementierung von energieeffizienten Antriebslösungen und digitalen Asset-Management-Systemen kann dazu beitragen, die Betriebskosten zu senken, die Produktivität zu steigern und Wartungsprozesse zu optimieren. Weil diese Lösungen herstellerunabhängig und standardisiert sind, können sich KMUs zudem schneller mit den Systemen vertraut machen. Das senkt die Eintrittsbarrieren und unterstützt KMUs dabei, von den Vorteilen der Industrie 4.0 und des Antriebs 4.0 zu profitieren. Dies trägt dazu bei, dass auch kleinere Unternehmen die Möglichkeiten der fortschreitenden Digitalisierung im industriellen Umfeld nutzen können.
 

 

Text Christian Buck/ Fraunhofer Institut IIS | Bilder Fraunhofer IIS

 

Dieser Artikel ist Teil der Ausgabe 1.2024, die am 15. April 2024 erschienen ist.



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