Sitzen also in Europa Bürokraten, die sich Regulierungen ausdenken, ohne deren Folgen abzuwägen?
Bütikofer: Wir müssen aufpassen, dass wir bei aller berechtigter Kritik nicht einer Fantasie hinterherlaufen: dass es ohne Regulierung geht. Märkte entstehen aus Regulierungen und dafür haben wir in Europa einen Werkzeugkasten. Manche Werkzeuge sind darin aber nicht enthalten. US-Präsident Biden hat mit dem Inflation Reduction Act eine ökologische Investitionsoffensive gestartet, die im Wesentlichen nicht das Ordnungsrecht, sondern marktwirtschaftliche Instrumente nutzt. In der EU ist das nicht möglich, weil dafür die Mitgliedsländer verantwortlich sind. Wenn die EU etwas regulieren will, muss sie andere Werkzeuge nutzen. Ich glaube allerdings, dass die Art und Weise, wie wir zu Regulierungen kommen, antiquiert ist. Es wäre intelligenter, wenn sich Wirtschaft und Gesellschaft vorher gemeinsam überlegen würden, wie man zum Beispiel beim Green Deal die ökologischen Aspekte als Triebkraft für mehr Wettbewerbsfähigkeit nutzen kann.
Zum Abschluss ein Blick in die Zukunft: Wie sollte die EU in zehn Jahren aufgestellt sein?
Bütikofer: Es gibt eine Sache, die ich mir ganz besonders wünsche: Die EU sollte sich mehr um die Partnerschaft mit Ländern aus dem globalen Süden bemühen. Sonst werden diese Länder zu einer Mobilisierungsmasse für die autoritären Regimes. Chinas Propaganda sagt: „Der Westen hat die ganze Welt jahrhundertelang kolonialistisch ausgebeutet. Wir sind die erste nicht-westliche Nation, der ein Aufstieg gelungen ist. Ihr müsst uns alle unterstützen – denn wenn wir aufgestiegen sind, kommt ihr hinterher.“ Wenn wir durch unser Verhalten noch Öl ins Feuer gießen und diese Länder nicht partnerschaftlich behandeln, dürfen wir uns über die Konsequenzen nicht wundern.
Kegel: Ich kann das nur unterstreichen. Außerdem wünsche ich mir, dass wir in zehn Jahren mit der Vollendung des Binnenmarkts weiter sind, zum Beispiel in den Bereichen Netzausbau, Digitalisierung und Telekommunikation. Denn damit bleiben wir attraktiv für mögliche Partner. Und diesen Partnern müssen wir mit kompromissgeleiteter Politik begegnen – und nicht mit einer Politik des erhobenen Zeigefingers. Das Freihandelsabkommen mit Indien ist ein perfektes Beispiel: Wir haben hier die Chance, alles richtig zu machen. Es besteht aber auch die Gefahr, dass wir europäische Standards durchsetzen wollen, die dort nicht umzusetzen sind. Wir sollten Länder wie Indien nicht China und Russland überlassen, sondern uns als demokratischer Kontinent um Partnerschaften mit ihnen bemühen.