Heißes Eisen

Gigantische Herausforderung

Mit Chat GPT, Bard und Co. kommen immer mehr und immer bessere Chatbots amerikanischer und asiatischer Anbieter auf den Markt, die mit Künstlicher Intelligenz arbeiten. Und das ist erst der Anfang: KI wird die gesamte Welt der Wirtschaft beeinflussen, sagt Doris Weßels. Die Professorin für Wirtschaftsinformatik plädiert darum für eine europäische KI-Alternative, eine engere Zusammenarbeit der Bundesministerien und vor allem für mehr Geschwindigkeit. 

 

Künstliche Intelligenz hält schon heute mit großen Schritten Einzug in die Produktion, zum Beispiel für die Wartung, die Qualitätskontrolle, in der Robotik oder für Nachfrageprognosen. Der nächste Sprung wird allerdings auf einer ganz anderen Ebene erfolgen: „Die faszinierendste Facette dieser Entwicklung ist die Möglichkeit, dass Menschen mit Maschinen in natürlicher Sprache kommunizieren können“, sagt KI-Expertin Doris Weßels, die als Professorin am Institut für Wirtschaftsinformatik an der Fachhochschule Kiel forscht und lehrt. „Dafür sind generative KI-Sprachmodelle wie Chat GPT die Grundlage.“ Ein Roboter, der in humanoider Gestalt und mit menschenähnlicher Sprache agiert, wird möglicherweise in der Fabrik zum Kollegen der Zukunft. Er dürfte besonders vielseitig einsetzbar sein, weil die generative KI sämtliche Verknüpfungen von Sprache, Bildern, Videos und Stimmen beherrscht.

Was heute noch nach Zukunftsmusik klingt, liegt bei der derzeitigen Innovationsgeschwindigkeit gar nicht mehr so fern, erklärt Weßels, die Aufregung um die innovative Technologie sei also durchaus berechtigt. Denn schon jetzt ist ein Multi-Milliardenmarkt für KI entstanden, der stetig weiter wächst. Die Technologie wird zudem für enorme Produktivitätsvorteile sorgen: KI kann laut einer Studie von McKinsey einen jährlichen Mehrwert von 2,6 bis 4,4 Billionen US-Dollar schaffen. Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands liegt bei rund 4,1 Billionen US-Dollar. Gleichzeitig hat die Entwicklung enorme Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft. „Goldman Sachs schätzt zum Beispiel, dass weltweit 300 Millionen Arbeitsplätze durch diese Technologie wegfallen könnten, während McKinsey vorhersagt, dass in 20 Jahren nur noch die Hälfte der heutigen Tätigkeiten ausgeführt werden“, erklärt Weßels. Davon betroffen sind neben einfachen Büromitarbeitern auch hochqualifizierte Berufsgruppen: Juristen, Architekten, Programmierer und sogar Ingenieure.

Europa hinkt bei der KI stark hinterher

Für die KI-Expertin ist die Entwicklung gesetzt. Sie stellt vor allem die Frage danach, wie Deutschland und Europa damit umgehen sollen: „Wir stehen vor der gigantischen Herausforderung, im globalen Wettbewerb um generative KI-Systeme mitzuhalten.“ Amerikanische Unternehmen wie Open AI mit Chat GPT, das stark von Microsoft finanziert wird, oder Google mit Bard sind schon auf dem Markt, Apple und Meta werden folgen – und in China fließen ebenfalls Milliarden in KI. „Europa hinkt dagegen stark hinterher. In Deutschland haben wir zwar Firmen wie Aleph Alpha oder die LEAM-Initiative, die versucht, ein wettbewerbsfähiges KI-Ökosystem in Europa aufzubauen“, berichtet Weßels. „Das reicht aber noch lange nicht: Wir müssen eigene Sprach- und auch Geschäftsmodelle entwickeln und uns über die gesamte Wertschöpfungskette Gedanken machen.“ 

Die Professorin sieht allerdings einige Hemmschuhe. Der kürzlich vom EU-Parlament verabschiedete EU AI Act markiere zwar einen wichtigen Schritt, um Künstliche Intelligenz in Europa zu regulieren. „Die Politik darf aber gleichzeitig nicht bremsend wirken und Investoren nicht abschrecken.“ Erschwerend kommt hinzu, dass sich die KI-Technologie so rasend schnell entwickelt. „Während unser politisches System und die etablierten Prozesse oft durch bürokratische Hürden und die komplexe föderale Struktur Deutschlands und der EU gebremst werden, überholt die technologische Entwicklung das politische System gefühlt um ein Vielfaches.“ 

Die faszinierendste Facette dieser Entwicklung ist die Möglichkeit, dass Menschen mit Maschinen in natürlicher Sprache kommunizieren können.

Doris Weßels

Professorin für Wirtschaftsinformatik, Fachhochschule Kiel

Silo-Denken überwinden und ganzheitlich herangehen

Weßels schlägt darum vor, auf mehreren Ebenen anzugreifen. In Deutschland sollten zum Beispiel interministerielle Arbeitsgruppen geschaffen werden, um die Zuständigkeiten für KI in den Ministerien zu koordinieren. „Die aktuell fragmentierte Zuständigkeitsstruktur passt nicht zu einem Querschnittsthema wie KI. Es ist wichtig, das Silo-Denken zu überwinden und eine ganzheitliche Herangehensweise zu entwickeln“, sagt die Expertin, die ihre Ideen schon in verschiedenen Bundestagsausschüssen vorgestellt hat. 

Gleichzeitig sollte ein europäisches Projekt ein eigenes Sprachmodell entwickeln, das mit hochwertigen Trainingsdaten gefüttert wird, die der kulturellen Mentalität und den Werten Europas entsprechen. „Transparenz ist eine wesentliche Voraussetzung auf dem Weg zu einer erklärbareren KI.“ Ein letzter Schritt, der im Grunde ganz am Anfang steht, ist der Professorin ebenfalls wichtig: „Wir benötigen eine KI-Taskforce, die die Lehrkräfte an Schulen und Hochschulen auf dem aktuellen Stand hält“, sagt Weßels. „Nur so können wir das Bewusstsein für und das Wissen über KI in der Bevölkerung stärken und damit einen breiten Diskurs in der Gesellschaft ermöglichen.“

 

Text Marc-Stefan Andres | Fotografie Matthias Haslauer

 

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 2.2023 am 2. Oktober 2023 erschienen.



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